ZAGAVAs fadengebundene Reihe Infra Noir präsentiert Kurzprosa in englischer Sprache und ist vermutlich jedem Interessierten im Forum bekannter als mir.
Homepage mit der Reihe hier.
Abgesehen davon, dass dieses gestempelte Büttenpapier, die Fadenheftung und der Druck selbst ein sinnlich-haptisches Fest sind, entdecke ich hier britische Autoren, die unbegreiflicherweise bislang an mir vorbeigegangen sind. Das wird mich arm machen, meine Auswahl bislang ist stilistisch sehr ähnlich zu einer der ersten literarischen Lieben meines (damals Teenage-)Lebens: Derek Jarman. Auch sehe ich Ähnlichkeiten zu den besten Werken Robert Edrics.
Einiges ist diffus unheimlich, anderes eine sehr innovative, postmodern-kühle Neuinterpretation klassischer Geistergeschichten bzw. Late-Gothic Tales. Soweit ich bislang gelesen habe, immer mit einem Hauch Trauer, Nostalgie, angedeutete historische oder persönliche Traumata, dem Abandoned.
Ich beginne mal mit Martin Ruf:
"Canon for Three September Voices" (Übersetzt von Louis Marvick)
Also das ist ganz genau mein Ding. Die Erzählung ist in zwei längere und einen kürzeren Teil aufgespalten, wobei die ersten beiden über Briefe, der letzte direkt erzählt wird, und eine große Zeitspanne umfassen: 1819, London / York -> 2418, Nebraska -> 2618, Schweden. Eine symbolträchtige Nebenfigur (sage ich mal vage, spoilerfrei) verbindet alle drei Teile und ich tippe hier auf ein Nicken zu Pullmans Trilogie His Dark Materials, aber ohne den esoterisch-religiösen Ballast.
Die georgianische Epoche behandelt auf extrem innovative Art das Frankenstein-Motiv und bietet sowohl Szenen, die ich als tatsächlich lebensecht empfand [no pun intended!], wie auch dezent gruselig, beim spekulativen Unbekannten sowohl poetisch als auch - im Sine von 'sense of wonder' - frisch. Martin ist einer der ganz wenigen, die den Stil der Georgian bis Edwardian Era bzw. der Schaueromantik / des Biedermeiers auf den Punkt treffen, ohne je aus dem Duktus zu fallen. Denoch klingt nichts angestaubt, sondern ganz unverkrampft flüssig.
Der mittlere Text ist eine Überleitung, Brücke, und kürzer. Der Duktus erschein mir für die Zeit (2418) weniger futuristisch als eher 1970er, aber es passt dennoch sehr gut zum Inhalt.
Der Abschluss bricht auf wunderbare, faszinierende Weise mit den vorangegangenen Stimmen, zeigt weiterhin den stark innovativen, persönlichen Charakter und erinnerte mich sogar an Antoine Volodine, v.a. Radiant Terminus. Besonders cool, weil Martin ihn zum Zeitpunkt der VÖ noch gar nicht gelesen hatte. Sehr gut gefallen mir auch die in Klammern gesetzte Nebenbemerkungen der Erzählerin, die beinahe eine Meta-Ebene reinbringen. Hätte mir den Text auch sehr gut ohne den letzten kleinen Absatz vorstellen können, weil das eigentlich bereits in meinem Kopf anklang.
Feinfühlig übersetzt gehört diese Geschichte - vor allem Teil 1 und 3 - zu den besten, die ich in den vergangenen Jahren las. Kommt mir im Nachinein bereits vor wie ein Roman, obwohl ich grad eben das Heft zur Seite gelegt habe.
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"The Purple Thread" (Englisches Original)
Kürzer und gradliniger als "September" spielt diese Geschichte im 21. Jahrhundert, beginnt realistisch und driftet dann immer weiter ins Seltsame, bis hin zu einem surrealistisch-horrorhaften Schlussbild. Mehr kann ich nicht sagen, ohne massiv zu spoilern. Trotz der augenscheinlichen Leichtigkeit (eine gediegene Gartenparty), herrscht eine bedrückende, ungute Atmosphäre vor, und es wird angenehm offengelassen, ob sich die Ereigenisse faktisch oder zunehmend im Kopf des Erzählers abspielen - so habe ich es jedenfalls gelesen. Als dezidiert paranormale Geschichte gelesen funktioniert sie aber ganz genauso gut.
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Ich dachte, meine dekorative Fensternische (don't ask) und der ebenfalls neu eingezogene 'Muttering Judge Scarlet' von den York Ghost Merchants gäben für beide Werke ein passendes Ambiente ab.
Williams HAMMER!!! Weihnachten ist vorbei, Geburtstag noch ein bisschen hin und trotzdem kam da ein unglaubliches Geschenk an! Vielen, vielen Dank, Martin! Auch für die fantastischen Beigaben, zum Niederknien schön!