All of Us Strangers (2023)

  • Ich habe mir heute zufällig den als "romantic fantasy" gelabelten britischen Film All of Us Strangers von 2023 angesehen. Ich hatte den Kinostart damals mitbekommen und auch gehört, dass der Film vielfach Preise zugesprochen bekam, ihn dann aber wieder aus den Augen verloren. Zwar dreht sich die Handlung um eine (homosexuelle) Liebesbeziehung, aber Regisseur Andrew Haigh hat hier keinen konventionelles Liebesdrama vorgelegt. Vielmehr besteht der Film aus einer Art Bewusstseinsstrom, spielt mit Versatzstücken aus Geistergeschichte und Psychogeographie und exploriert mit da und dort minimalistisch eingesetztem Surrealismus verschiedene mentale Schichten des Hauptprotagonisten.



    Mir hat der Film in seiner Seltsamkeit sehr gefallen. Das Hauptthema ist gewiss, so legt es schon der Titel nahe, jenes der existenziellen Einsamkeit, das sich aufspannt zwischen mehreren sozialen Polen. Vertane Chancen, familiärer Bruch, Dissonanzen hinsichtlich der sexuellen Orientierung. All dies wird, so habe ich es empfunden, unter Vermeidung jeglicher Klischees zusammengeführt. Ob man Realität oder Übernatürliches, Phantasie oder Wahn betrachtet, bleibt weitestgehend unklar. Der Film, der auf einem japanischen Roman von 1987 basiert, macht immer wieder Orientierungsangebote, die dann aber durch den Einsatz von Drogen, Traumsequenzen u. ä. gebrochen werden. Sentimente stehen stark im Mittelpunkt, auch körperliches Begehren spielt eine Rolle, kitschig oder exploitativ wird die Erzählung aber an keiner Stelle.


    Durch eine merkwürdig kühle Verbindung von einer seltsam sterilen 80er-Jahre-Vergangenheit (untermalt durch einen sorgsam kuratierten Score) und einer unbestimmbar nichtssagenden, urbanen Jetztzeit generiert der Film immer wieder eine unheimliche Stimmung. Eine äußerst reizvolle Mixtur. Man hat den Eindruck, keinerlei Abgedroschenes zu sehen. Auch die SchauspielerInnen sind großartig. Wer die Themen nicht scheut und den Einbau phantastischer Elemente in eine moderne Alltagswelt auf hohem Niveau schätzt (Robert Aickman lässt grüßen), der/dem sei der Film empfohlen.


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    "The amount of weird material I have not read is appalling"


    HPL to CAS, 1925

  • Hallo Nils ,


    das sieht ja super aus, auch allein das Plakat ist wunderschön. Nicht dieser inzw. fast übliche schreiend bunte KI-Zusammenschnitt von ein paar Gesichtern ...


    Das klingt toll und wird sogar in meinem nordischen VoD SFAnytime angeboten, das werde ich gleich mal anschauen! Vielen Dank auch für deine ausführliche, schon in sich sehr spannende Rezension. Der Film wäre auf jeden Fall an mir vorbeigegangen, wird bei SFAnytime gelistet unter 'Drama' (okay, da gucke ich durchaus), aber aben tatsächlich auch 'Romantik' und dann nix weiterem.


    Jamie Bell ist eh super und von Andrew Scott bin ich vom Trailer her sehr angetan, der hatte in Sherlock (das du eh nicht magst, oder?) derartiges Overacting betrieben, dass ich die Szenen mit ihm nur gespult hatte, da konnte ich nicht hinsehen. Hätte gedacht, das läge am Schauspieler ... und hab mich wohl massiv geirrt.


    Mir gefällt auch sehr dieses Stadt/Land-Thema, das ja beides sehr positive und sehr gruselig-unangenehme Seiten hat.

  • Freut mich, dass dich der Film interessiert! Bin auf dein Urteil gespannt.


    Stimmt, Sherlock mochte ich überhaupt nicht aus verschiedensten Gründen. Ich kann mich an Andrew Scotts Auftritt da aber kaum noch erinnern. Ich kannte ihn jedenfalls hauptsächlich aus mehreren kleineren Rollen und fand ihn bisher immer sehr überzeugend. Die Highsmith-Verfilmung Ripley mit ihm in der Hauptrolle soll auch sehr gut sein.


    Jamie Bell hat sich seit dem immer noch sehr guten Billy Elliot total interessant entwickelt, finde ich. Sein Rollenspektrum ist äußerst breit. Paul Mescal kannte ich bisher gar nicht und Claire Foy ist auch eine Schauspielerein, die man im Auge behalten sollte.


    Mir gefällt auch sehr dieses Stadt/Land-Thema, das ja beides sehr positive und sehr gruselig-unangenehme Seiten hat.

    Guter Punkt. Vieles klingt im Film nur an oder wird wie nebenbei eingewoben, daher wird man wohl kaum fündig, wenn man nach handfestem Grusel sucht. Aber das ist man ja ggf. auch nicht immer.

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    HPL to CAS, 1925

  • Nils Oh Hölle, den Film sollte sich aber niemand anschauen, der gerade einen Trauerfall hat oder hatte. Ich war sogar froh, dass ich aufgrund deiner Vorstellung einiges dazu gelesen hatte und wusste, was passiert bzw. wie es endet. Absolut herzzerreißend, aber nie kitschig.


    Hammerfilm! Danke noch mal. Romantic Fantasy scheint mir im Hinblick auf Zielgruppen / Erwartungen ein tragisches mislabelling zu sein. Ich sehe ihn durchaus - obwohl viel ruhiger - genau auf einer Linie mit Requiem for a Dream. Sogar der Titel könnte für beide passen.


    Man könnte das Ende nun spekulativ-romantisch verstehen, im Sinne


    Das ist sehr toll gemacht, und das muss einer der schlimmsten Albträume sein, wenn man mit seinen verstorbenen Eltern Meinungsverschiedenheiten hat und sie dann noch über ihr eigenes Sterben hinwegtrösten muss. Es ist die Verfilmung eines Romans, werde mir den auch mal ansehen.

    Wie Requiem for a Dream emotional harter Tobak, finde ich. Und wirklich sehenswert.


    Oh ja, Billy Elliot hatte mich damals auch total mitgerissen. Claire Foy kenne ich aus dem spektakulär guten Wolf Hall, worin sie eine der Hauptrollen spielt: Anne Boleyn. Mit so feinen Nuancen, wie man sie selten sieht. Die Minserie gehört mMn eh zu einer der besten Produktionen überhaupt. (Die Romanvorlage ist vergessenswert und geschwätzig.)

  • Freut mich, dass dir der Film auch gefallen hat! Ja, das Marketing ist hier irgendwie völlig schräg...


    Guter Hinweis mit Reqiuem for a Dream, den ich vor langen Jahren mal gesehen, aber kaum konkrete Erinnerung habe. Ich weiß nur noch, dass ich ihn unangenehm fand, was ähnlich auch auf Letzte Ausfahrt Brooklyn von Reqiuem-Autor Hubert Selby zutrifft, das ich mal gelesen habe. Interessanter Querverweis, werde mir den Film wohl nochmal anschauen.


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    HPL to CAS, 1925

  • Ich weiß nur noch, dass ich ihn unangenehm fand

    To say the least, würde ich sagen. Und ebenso wie bei Strangers ein wahnsinnig toller Soundtrack. (Gut, dass du drauf hingewiesen hattest, der ist ja recht dezent.)

    Nerdy fact: "Lux Aeterna" aus Requiem (Chronos Quartett /Hans Zimmer) ist ja extrem wiedererkennbar und kaum verändert in einer Reihe anderer Filme verwendet worden, u.a. Sunshine und - dort sogar uncredited - Shin Godzilla ("Black Angels" ab 0:30').


    Spoiler im Spoiler: :- )

    Ein ähnlich komplexer Film, dort aber explizit multidimensional, wäre Coherence (James Ward Byrkit, USA 2013). Der Trailer ist schlecht - viel zu hektisch, zu effekthascherisch und so hysterisch sind die Figuren gar nicht ständig. Kann ich auch sehr empfehlen, wenn du zu sowas grad in der Stimmung bist. Glaube übrigens nicht, dass ich den 100% durchblickt hab.


    Ich war total begeistert, dass eine größere, gut besetzte Produktion sich solcher Verfahrenweisen des Erzählens überhaupt annimmt.

    Absolut! Ich werde noch ne Weile tüfteln, aber eventuell vorm Pennen echt noch was anderes einschieben, und sei es Musik ...

  • ein wahnsinnig toller Soundtrack.

    Ich höre seit gestern recht viel Fine Young Cannibals. ^^



    Ein ähnlich komplexer Film, dort aber explizit multidimensional, wäre Coherence

    Danke für den Tipp, sagt mir gar nichts. Lustig, da spielt ja Nicholas Brendon mit.


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  • Moi Nils ,


    ja, sehr guter Punkt mit den Eltern. Da fand ich auch fies, andererseits durchaus faszninierend. Also spannender als diese ewige Frage: 'Wenn du als Betagter zu dir als Kind sprechen könntest, was hättest du dir selbst geraten?'


    Was ich mir bis jetzt immer noch nicht erklären kann - also von der spekulativen Logik her -, ist die doppelte Anwesenheit Adams in einigen Szenen, wenn er als Erwachsener Visionen von sich als Junge hat. Keine andere Figur ist ja doppelt im Frame, auch Harry am Ende nicht.


    Da ich mit einer fetten Erkältung im Sessel hänge, hab ich mal einige Interviews angeschaut (Scott und Mescal sind ja sowas von süß zusammen, tolle Dynamik, sehr locker).

    Mit dem Haus als 'Brandopfer' lag ich demnach wohl falsch, zumindest was die Intention des Regisseurs angeht. Nichtsdestotrotz gerät jedes Werk bei Veröffentlichung aus der Kontrolle des Erstellers und es spricht nichts dagegen, es so zu betrachten. Es änderte auch nichts sonst an den Motiven, Themen und Aussagen des Films, daher korrigiere ich meine Sicht nicht, weil ich das super spannend finde.


    Der Film hat eine Romanvorlage, Strangers von Taichi Yamada, und davon gab es 1988 eine japanische Verfilmung, The Discarnates. Ich hab mir das Buch in meine Bibliothek bestellt und bin extrem gespannt. Buch und Erstverfilmung gehen das Thema nämlich anders an: die Toten sind Vampire, die Lebensenergie anstatt Blut saugen; also eine sehr viel negativere Sicht als bei Strangers. Hier ist die Befreiung von der Vergangenheit wortwörtlich lebensnotwendig.


    Der Film sieht erstmal recht trashig aus, aber es gibt einen sehr detaillierten, intelligenten Vergleich aller drei Varianten in diesem langen Videoessay, das zudem Beleuchtung, Frames, Farbschemata, liminal spaces und transzendentes Kino betrachtet - dabei sieht man sehr viele schöne Referenzen in Strangers. Auch kann man damit das Song-Zitat "Keep the Vampires From Your Door" bei der ersten Begegenung Adam / Harry als doppelte Referenz sehen.


    Danke nochmal Nils, was für eine tolle Entdeckung!


    OT: Ich hab endlich Tár gesehen.

  • Danke nochmal Nils, was für eine tolle Entdeckung!

    Dir vielen Dank für die tollen Anregungen und die weiterführenden Gedanken / Recherchen. So intensiv hätte ich mich mit dem Film ansonsten gar nicht beschäftigt. :)



    OT: Ich hab endlich Tár gesehen.

    Okay, besten Dank auch für deine Ansicht zu diesem Film. Hatten wir da mal drüber gesprochen? Ich konnte hier ad hoc gar nichts dazu finden.


    Ich müsste mir den Film nochmal ansehen, um jetzt mehr dazu sagen zu können. Ich weiß aber noch, dass ich ihn von der Stimmung her sehr intensiv und unterhaltsam fand. Ich glaube, den Plot kann man dem Film nicht vorwerfen, greift er doch nur das auf, was seit spätestens 2017 in den Medien omnipräsent war. Dass man sich das dann auch filmisch vorknöpft, ohne jetzt direkt die ganz unerwartete Variante zu bringen, finde ich nachvollziehbar. Ich fand es im Gegenteil eher angenehm, hier einen unaufgeregten Realismus vorzufinden, der das Thema aus verschiedenen Perspektiven einkreist und trotzdem den Finger in die eine oder andere Wunde legt. Der Film bietet ja daneben noch weitere Anknüpfungspunkte, soweit ich mich erinnere, bspw. Szenen, die der Gedankenwelt von Tár zu entspringen scheinen. Cate Blanchett fand ich auch großartig. Aber wie gesagt, ich müsste den Film erneut schauen.


    Witzigerweise habe ich neulich, als ich zum ersten Mal Eyes Wide Shut von Kubrick gesehen habe (absolut grauenhaft...), zufällig festgestellt, dass der Regisseur von Tár im Kubrick-Film einen Pianisten spielt, der seine Dienste bei übergriffigen Upper-Class-Orgien anbietet. Das schien mir angesichts des späteren Themas seines eigenen Films irgendwie bemerkenswert.

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