Neue Reihe UNTOTE KLASSIKER

  • Ich habe mir gestern den ersten Band mit Hanns Ewers bestellt. Es wird dann mein Erstkontakt mit dem Autor sein. Ich könnte mir auch vorstellen, dass ich bei der Reihe bleibe und die anderen beiden Bände bei Zeiten auch lesen werde. Die Autoren klingen jedenfalls interessant.

  • Inzwischen habe ich den Morrow-Band gelesen. Meine Meinung:


    Allgemein:

    Schicke Aufmachung, wunderschöne Illustrationen + Verzierungen am Seitenrand und ein informatives Vorwort über den Autor... Der erste Eindruck fällt schon mal äußerst positiv aus. Glücklicherweise stehen die eigentlichen Geschichten der schönen Gestaltung und dem gelungenem Editorial in nichts nach:


    Die Auferstehung der kleinen Wang Tai:

    Ein geflohener Zirkusaffe landet in einer Irrenanstalt und stellt dabei fest dass sich das Schicksal der Insassen gar nicht so sehr von seinem eigenen unterscheidet. Mit einem der dort untergebrachten "Idioten" vollbringt er schließlich sogar ein Wunder. Danken wird man es ihm jedoch nicht.

    Morrow lässt keinen Zweifel daran welchen Akteuren dieser Geschichte seine Sympathie gilt (nämlich dem Affen und dem Idioten). Ein gelungener Auftakt, der aus einer originellen und ungewöhnlichen Perspektive erzählt wird.


    Der Held der Seuche:

    Ein geistig verwirrter Mann namens Baker findet in einem Hotel das Zuhause das er nie gekannt hat - Doch plötzlich hält der Tod Einzug im Gasthof. Während alle anderen völlig überfordert sind, behält ausgerechnet Baker die Nerven.

    Bei dem Titel muss man aktuell ja zwangsläufig an Corona denken. Mit dem Schicksal eines Krankenpflegers/ einer Krankenschwester hat „Der Held der Seuche“ aber natürlich nichts zu tun. Ähnlich wie in "Die Auferstehung" geht es hier vielmehr um einen vermeintlichen Verrückten, der sich am Ende jedoch mal wieder als Held erweist und Dinge vollbringt zu denen die "anderen Leute" nicht in der Lage sind. Eine äußerst rührende Geschichte. Mit tragischem Ausgang.


    Sein unbesiegbarer Feind:

    Ein Arzt verbringt ein paar Tage im Palast eines indischen Rajas. Dort lernt er dessen niederträchtigen Diener kennen, dem selbst diverse Amputationen nicht von seinem teuflischen Plan abhalten können.

    Morrows berühmteste Erzählung. Im Gegensatz zu seinen direkten Vorgängern („Auferstehung“ & „Seuch“) liefert er hier eine extrem bösartige Geschichte ab, inklusive jeder Menge schwarzem Humor und einem echt fiesen Twist. Bitter Bierce hätte es nicht besser gekonnt.


    Das feststeckende Stilett:

    Ein Arzt wird zu einem Notfall gerufen. Die Diagnose ist schnell gestellt: Ein Messer steckt in der Brust seines Patienten. In der Not entschließt er sich zu einer recht experimentellen Operation.

    "Das Stilett" lebt primär von seinen extrem trockenen Dialogen: Der Sterbende nimmt sein Schicksal mit stoischer Gelassenheit hin und quittiert den Befund des Arztes mit einem schlichten "Danke". Warum ein Messer in seinem Körper steckt scheint auch niemanden besonders zu interessieren. Stattdessen fachsimpelt man lieber über die Beschaffenheit der Tatwaffe. Der Täter/ die Täterin wird am Ende dann aber doch noch in einer tödlichen Pointe offenbart. Großartig.


    Bei einer Flasche Absinth:

    Pleite und mit gebrochenem Herzen landet Arthur in San Francisco. Glücklicherweise (?) nimmt sich ein mysteriöser Fremder seiner an und lädt ihn auf eine Flasche Absinth und ein Würfelspiel ein. Man muss kein Genie sein, um zu ahnen dass das keine gute Idee ist.

    "Versuchungen sollte man nachgehen, wer weiß ob sie wiederkommen" hat Oscar Wild mal gesagt und ziert mit diesem Spruch (als Wandtattoo) wahrscheinlich unzählige Küchen dieses Landes. Arthur hält es jedoch eher mit einem anderen Sprichwort - "Vorfreude ist die schönste Freude." Man sollte mit der Erfüllung seiner Wünsche allerdings nicht immer zu lange warten. Eine melancholische Geschichte, bei der nicht jeder der Beteiligten so lebendigt ist, wie es zunächst den Eindruck macht.


    Der Kerkerinsasse:

    Einem Häftling wird im Knast ein Vergehen vorgeworfen, welches dieser jedoch gar nicht begangen hat. Und auch wenn es sich dabei eigentlich um eine Lappalie handelt, weigert es sich energisch die Schuld einzugestehen und nimmt dafür auch die harte Strafe in Kauf - Er ist bereit für seine Prinzipien in den Tod zu gehen. Für seinen Gegenspieler gilt dummerweise das Gleiche.

    Ähnlich wie in "Sein unbesiegbarer Feind" geht es hier um den grausamen Kampf zwischen zwei äußerst sturen Männern (eine häufig auftretendes Motiv bei Morrows). Während in der ersten Geschichte jedoch der Hass siegt, ist es hier... nun ja... die Liebe. Das Ergebnis fällt allerdings ähnlich betrüblich aus. Eine unterhaltsame Geschichte, die wieder mit einem überraschenden Ende aufwarten kann (ein weiteres Markenzeichen des Autors).


    Ein ehrenhaftes Spiel:

    Ein Expeditionsleiter setzt einen in Ungnade gefallenen Matrosen in einem kleinen Boot mitten im Meer aus. Dem Wahnsinn nahe legt er schließlich sein Geständnis ab. Sein Gesprächspartner ist allerdings ein Hai. Ein sehr, sehr hungriger Hai.

    Die kurze Story besteht überwiegend nur aus dem wirren Gestammel eines Sterbenden (?), dem am Ende seines Lebens eine Art Läuterung widerfährt und der für seine Überzeugungen auch den Tod in Kauf nimmt (vgl. „Der Kerkerinsasse“). Sicher Kein Hailight, aber eine nette und kuriose Geschichte.


    Der heimtückische Velasco:

    Nach einer einmonatigen Abwesenheit kehrt McPherson auf seine Ranch und zu seiner geliebten Frau zurück. Die Wiedersehensfreude ist aber leider nur von kurzer Dauer, denn kurz darauf wird die gute Dame von einem Dieb überfallen. Glücklicherweise weiß sie sich jedoch zu wehren.

    Im Vorwort wird "Velasco" als ein Meisterwerk bezeichnet, ich fand das Stück jedoch ziemlich unspektakulär und auch recht belanglos. Habe ich vielleicht irgendetwas verpasst? Muss ich wohl irgendwann mal wieder lesen.


    Eine ungewöhnliche Sicht der Dinge:

    Clarke wurde gerade von seiner Frau betrogen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, handelt es sich bei ihrem Liebhaber auch noch um Clarkes bester Freund. Eine Lösung für dieses Problem ist schnell gefunden – Ein erweiterter Suizid. Oder gibt es eventuell noch eine andere/bessere Lösung?

    Zählt für mich ebenfalls zu den schwächeren Geschichten in diesem Band. Im Prinzip handelt es sich bei "Eine ungewöhnliche Sicht" um ein reines Gedankenspiel bzw. das endlose Abwiegen von Pro- und Contra-Argumenten – Und das fällt mMn leider nur mäßig unterhaltsam aus.


    Ein Hilferuf aus dem Meer:

    Ein Schiff kentert während eines gewaltigen Sturms, die Besatzung kann sich jedoch noch rechtzeitig auf eine mysteriöse Insel retten. Deren Bewohner sind allerdings nicht so freundlich, wie es den Anschein hat.

    Der Anfang der Erzählung versprüht dezentes maritimes Horror-Feeling, doch die Grenze zur Phantastik wird hier an keiner Stelle überschritten. Ein Sturm ist bei Morrow eben einfach nur ein Sturm und kommt völlig ohne übernatürliche Elemente aus. "Trotzdem" handelt es sich hier um eine gelungene Abenteuerstory. An die stereotype Darstellung der "Wilden", bei denen es sich natürlich auch noch um Kannibalen handelt, muss man sich aber sicher gewöhnen. Und habe ich erwähnt dass der Held Blackfacing betreibt, um ein feindliches Lager auszuspionieren? "Ein Hilferuf" hat allerdings auch schon über 130 Jahre auf dem Buckel. Das sollte man berücksichtigen.


    Der Monstermacher:

    Ein junger Mann sucht einen zwielichtigen Arzt auf. Sein Wunsch: Er möchte sterben. Der Doktor hat da aber ganz andere Pläne für seinen suizidalen Patienten.

    Eine klassische Horrorgeschichte (vielleicht sogar die Einzige in diesem Band). Morrows Variante des "Mad Scientist"-Motivs ist sicher nicht besonders innovativ, ich fand "Monstermacher" trotzdem ziemlich gelungen und schön fies.


    Originelle Rache:

    Der namenlose Protagonist enthält einen Abschiedsbrief eines befreundeten Soldaten. Scheinbar hat sich dieser umgebracht, um sich an einem verhassten Offizier zu rächen.

    Tatsächlich handelt es sich hier um eine Art Geistergeschichte. Oder etwa doch nicht? Und wo ist eigentlich Scooby-Doo wenn man ihn mal braucht?


    Zwei außergewöhnliche Männer:

    Ein Holzfäller verliert beim Kampf mit einem Kollegen seine Nase, wird durch die anschließende OP in eine Kuriosität verwandelt und landet daraufhin bei einer Freakshow. Dort streitet er sich schließlich mit einem Journalisten um die Gunst einer "Frau ohne Unterleib".

    Eine etwas andere Lovestory und sicher eine der skurrilsten Geschichten in diesem Band. Hat mir extrem gut gefalle. Und erinnert an ähnlich bekloppte Bierce-Grotesken wie "Hundeöl" oder "Ein Grab ohne Boden".


    Das anhängliche Amulett:

    Einem Kapitän, der angeblich mit satanischen Mächten im Bunde steht, wird ein äußerst mächtiges Schutzamulett geklaut – Ein Diebstahl mit "explosiven" Folgen.

    Ein würdiges Finale, bei dem es mal wieder dem Leser überlassen wird, darüber zu urteilen, ob hier alles mit rechten Dingen zugeht.


    Fazit:

    Eine fantastische Sammlung makabrer Geschichten. Morrow überrascht dabei häufig mit unerwartete Wendungen/Schlusspointen, ohne dass dies aber zum Shyamalan-mäßiges Gimmick verkommt. Mit einem Onetrick-Pony haben wir es bei ihm definitiv nicht zu tun.

    Seine Protagonisten sind meist Ausgestoßene, die am Rande der Gesellschaft dahinvegetieren (Irre, Sträflinge, Freaks, Zirkustiere) und mit denen es das Schicksal nicht immer gut meint. In der Regel ist bei Morrow am Ende nämlich irgendjemand tot. Dennoch reichert der Autor seine Erzählungen stets mit jeder Menge schwarzem Humor und Herz an.

    Der Vergleich mit Bierce ist mMn durchaus gerechtfertigt, jedoch besitzt Morrow definitiv eine eigene Stimme und ist mehr als ein einfacher Epigone. Wenn überhaupt (so erfährt man im Vorwort) verhält es sich genau andersherum.

    Für mich war das Buch jedenfalls eine literarische Entdeckung. Man kann dieses ambitionierte Projekt (unbekannte und vergessene Autoren der Weird-Fiction wieder aus der Versenkung zu holen) gar nicht genug loben. Wahrlich ein untoter Klassiker. (9/10)

  • Was für eine tolle Besprechung.

    Danke.

    Auch wenn ich mich über die unzähligen (Tipp)Fehler in meinem Text echt ärgere.

    Morrow war mir bisher unbekannt.

    Kannte ihn vorher auch nicht. Wie gesagt: Für mich war das Buch eine literarische Entdeckung

    Bei einem zweiten Morrow-Band (der ja wohl bereits in Planung ist) wäre ich also definitiv wieder dabei.

    Das will ich auch lesen.

    Ich kann es nur wärmstens empfehlen.

    Jo Piccol : Bisher eigentlich zufrieden mit den Verkäufen oder muss man sich Sorgen um die Reihe machen?

  • Kannte ihn vorher auch nicht. Wie gesagt: Für mich war das Buch eine literarische Entdeckung

    Bei einem zweiten Morrow-Band (der ja wohl bereits in Planung ist) wäre ich also definitiv wieder dabei.

    Ich kann es nur wärmstens empfehlen.

    Jo Piccol : Bisher eigentlich zufrieden mit den Verkäufen oder muss man sich Sorgen um die Reihe machen?

    Hallo Cheddar Goblin,


    zunächst einmal ein riesengroßes Dankeschön für Deine tolle Rezi - freut mich echt wahnsinnig, dass dir der Morrow-Band so gut gefallen hat!


    Ich halte Morrow auch für eine wirkliche literarische Entdeckung im wahrsten Sinn des Wortes - wenn Moskowitz und Joshi nicht gewesen wären, würde heute vermutlich kein Hahn mehr nach Morrow krähen ... so aber passt er perfekt in die Reihe "UNTOTE KLASSIKER". Meines Wissens nach wurden tatsächlich bis dato erst zwei Geschichten von Morrow ("The Monster Maker" und "His Unconquerable Enemy") ins Deutsche übersetzt, die auch im angloamerikanischen Raum am bekanntesten sind. Schön, wenn wir hier mit den deutschen Erstveröffentlichungen eine Lücke schließen können.


    Die ersten Rückmeldungen zeigen auch, dass der Morrow-Band quer durch die Bank aus unterschiedlichen Gründen gut ankommt, daher planen wir tatsächlich einen weiteren Morrow-Ausgabe, aber dazu ist es wohl noch zu früh, etwas zu sagen. Mit dem Start von "Der Affe, der Idiot und andere Leute" sind wir mal durchaus zufrieden, wobei wir aufgrund der Auslieferungsproblematik aufgrund der aktuellen Corona-Situation (insbesondere für das Hardcover) ja in Wahrheit gerade auch erst dabei sind, diverse kleine PR-Aktivitäten und Social-Media zu starten ...


    Um die Reihe muss man sich also keine Sorgen machen - jetzt kommt als nächstes mal der Level an die Reihe ...


    Herzlichen Dank auch an alle, die das Buch schon bestellt haben bzw. deren Interesse an dem Buch hier geweckt wurde.

    Wie schon gesagt, wir freuen uns über jeden Leser!


    Beste Grüße,

    JP

  • Das Buch kam jetzt an. Schöne Bindung auf den ersten Blick, Lesebändchen und stabiler Schutzumschlag. Auch Innen macht das Layout Freude, ohne schon was gelesen zu haben, macht das Buch einen sehr guten ersten Eindruck.

    Hallo Michael,


    freut mich, dass der erste Eindruck ein guter ist.

    Lass mich wissen, wie du die Stories findest ... der phantastische Einschlag ist ja bei vielen Geschichten eher gering.


    Wir arbeiten mittlerweile fleißig am Finishing des Maurice-Level-Buches ...


    Liebe Grüße,

    JP

  • Die Auferstehung der kleinen Wang Tai mit dem Affen und dem Idiot hat mir sehr gut gefallen. Der Held der Seuche lässt mich dagegen ratlos zurück. Den Twist habe ich irgendwie nicht verstanden.

    Die erste Geschichte ist auch einer meiner Favoriten., grundsätzlich ist aber immer alles Geschmackssache.

    "Der Held der Seuche" hat soweit ich weiß eine historische Cholera-Epidemie als Hintergrund und ist die älteste Geschichte von Morrow in diesem Band. Womöglich wirkt sie auch durch die nur angedeutete Personenzeichnung irgendwie unrund ...

  • Die erste Geschichte ist auch einer meiner Favoriten., grundsätzlich ist aber immer alles Geschmackssache.

    "Der Held der Seuche" hat soweit ich weiß eine historische Cholera-Epidemie als Hintergrund und ist die älteste Geschichte von Morrow in diesem Band. Womöglich wirkt sie auch durch die nur angedeutete Personenzeichnung irgendwie unrund ...

    Ich habe den Eindruck, man müsste mehr vom historischen Hintergrund wissen um die Geschichte richtig zu verstehen.


    Die Geschichte mit dem Stilett hat mir außerordentlich gefallen und ich glaube, sowas habe ich schon mal irgendwann irgendwo gelesen. Entweder wurde die schon übersetzt oder jemand anderes hat sich die Idee zu eigen gemacht.

  • Ich habe den Eindruck, man müsste mehr vom historischen Hintergrund wissen um die Geschichte richtig zu verstehen.


    Die Geschichte mit dem Stilett hat mir außerordentlich gefallen und ich glaube, sowas habe ich schon mal irgendwann irgendwo gelesen. Entweder wurde die schon übersetzt oder jemand anderes hat sich die Idee zu eigen gemacht.


    Bei der Geschichte mit dem Stilett hast Du recht! :)


    Wie ich zwischenzeitlich herausgefunden habe, wurde die Geschichte 2015 unter dem Titel "Das ewige Stilett" auch schon (leicht gekürzt) in der Nummer 21 des Arcana-Magazins von Robert N. Bloch und Gerhard Lindenstruth auf Deutsch veröffentlicht. Es ist durchaus interessant, auch die beiden Übersetzungen zu vergleichen.


    Morrow hat übrigens mehrere Geschichten geschrieben, in denen die Figur des Dr. Entrefort vorkommt - die würde ich sehr gerne in einem zweiten Morrow-Band (mit stärkerem phantastischen Einschlag) bringen.