Felix Woitkowski - E/METH

  • Lieber Felix ,


    ich war fest davon überzeugt, dass ich hier mit vielen schlauen Gedanken ankäme und das alles super durchblickt hätte. Leider muss ich aber auch ehrlich sagen, dass ich den Roman nicht verstanden habe. Das Allmähliche, das Geheimnisvolle (bis zur Hälfte), die angenehme Sprache und die tollen Settings (mein Favorit war der Raum mit all den Brettern kreuz & quer) haben mir absolut gut gefallen.


    Es gab eine Reihe Thesen, die sich mir im Laufe der Lektüre anboten, aber allesamt haben sich dann später - 20 Seiten oder ein Drittel Buch später - wieder aufgelöst oder zeigten sich als Irrweg (irgendwie passend). Dazu gehörten: Die Erwartung, dass es vielleicht eine weirde Variante von Cube sein mag, auch an Brazil fühlte ich mich angenehm erinnert. Zwar endet Cube auch sehr offen (ich fands da vom Motiv her unpassend und letztlich zu unklar), aber das Setting ist klar, zumindest in seiner Funktionsweise. Selbstverständlich ist es auch wesentlich platter als E/METH.

    Dazu: Ich kenne keine Bücher von C. S. Lewis (ist mir zu christlich), und kann daher dem Wiki zu Emeth nicht folgen; dann kenne ich zwar die Bedeutung von Alpha/Omega, aber nichts aus hebräischer Religion oder Kabbalismus. A/O zumindest im Gebrauch der Antike unterstützt übrigens dezent meine These im Spoiler, allerdings bekomme ich sie selbst nicht ganz zu fassen ...


    Dann dachte ich an Nahtod oder etwas Postmortales, das kam mir dann durch die anderen Figuren und ihre Erfahrungen, den Austausch mit ihnen unsinnig vor. Die Zettel hatte ich auch mit dem Golem verbunden, aber mir fehlte hier eine Figur, die die Rolle des Kabbalisten übernimmt. Auch hat der Erzähler hier keine offensichtliche Identität und Aufgabe, das passt imA doch nicht so gut.


    Meine 'schönste' Idee (also von meinem Empfinden beim Lesen) war: Diese ständige Betonung von Sandig-Grau vs Schwärze / Schatten ließen mich an eine Allegorie auf Figuren = Schrift im Buch denken. Als ob sie auf Papier lebten und - wenn sich der Plot entwickelt oder festgelegt / gedruckt wird - sie von der Druckerschwärze bzw. Tinte in die Enge getrieben würden, geschlagen und eingesperrt. Aber letztlich wäre dies kein Plot, sondern ein Thema und die verschiedenen Ebenen passen nicht (sie sind keine Seiten, sozusagen). Das löste sich spätestens auf, als der Perspektivwechsel eintritt.


    Ein Twist, den ich meine, verstanden zu haben, ohne ihn allerdings ins Gesamtkonzept einzuordnen zu können:


    Mein Fazit (mit einer pinch of salt, weil ich so arg auf dem Schlauch stehe):

    Die Erzählung hat mich stark reingezogen, die Settings sind grandios, das diffus Organisch-Anorganische hat mir sehr gut gefallen (die Gefängniszellen als Körperzellen/Organe und die Korridore als Adern gesehen). Der Stil ist angenehm unaufgeregt, bietet aber dennoch Spannung.

    Das Geheimnisvolle, das Nichtwissen, wo das alles ist und warum alles so stattfindet, hat sich bei mir lange positiv gehalten, ich hab geschaut, wo es dann kippte: S. 105. Also auf der Hälfte. Dann hätte ich sehr gern etwas Konkreteres gehabt, das auf mehr als symbolischer Ebene einen Plot ergibt. (Sage nicht, der Plot wäre nicht dort, nur, dass ich ich ihn nicht erkannt habe!). Also: Stärkere Verankerungen der einzelnen Symbole und des Geschehens, nicht unbedingt dann eine explizite Auserklärung.


    Der Großdruck hat mich leider bis zum Ende stark gestört. Besonders bei Gewalt/Schlägen/Angst zogen sich rein physisch vom Blättern her die Szenen über drei Seiten, wo ich vom Pacing / Impact her eine halbe bis max. eine erwartete. Das zusammen mit dem allgemein Vagen hat insgesamt den Eindruck erweckt, die Erzählung hätte deutliche Straffung benötigt und als Novellette vielleicht besser glänzen können (ich nehme an, die Zeichenzahl ist bereits die einer Novelle, mag mich aber irren).

    Rausgekickt hat mich der sehr häufige Einsatz von "es scheint - als ob" (zumal ich ein Freund von der Trennung scheinen und anscheinend bin = Licht scheint / es scheint als ob, ist aber anders versus anscheinend = offenbar / offensichtlich / augenscheinlich). Ich denke, ein 'scheinen' taucht auf jeder Seite auf. Ab der Hälfte finden sich auch ein paar Tipper, was mich bei der Aufmachung und v.a. dem Preis erstaunte.

    Positiv abschließend: Die Szenen sind sehr eindrücklich, anders als bei vielen anderen, auch exzellenten, Büchern habe ich viele Momente, Stimmungen und Orte noch ganz deutlich vor Augen und evt. sogar einen Albtraum davon (gemeint als Kompliment!). Hab auch mal eine längere Geschichte (Hommage à Volodine) geschrieben, wo der Erzähler sich über fast alles unsicher ist, er auch Gedächtnisprobleme hat und alles durcheinanderbringt, dazu spielt auch die Zeit etwas verrückt - ich weiß also, wie irre schwer es ist, mit solchen Zutaten einen halbwegs verfolgbaren Plot zu schreiben. Daher also: Respekt auf jeden Fall!


    Ich fühle mich ziemlich wie ein Dussel, weil ich mit Surrealismus, Perkampus oder Volodine null Probleme habe. Vielleicht geht mir ja nach einer anderen Rezi noch ein verspätetes Licht auf und es gibt einen massiven facepalm-Moment.

    [Gh2]

  • Liebe Silke, vielen Dank für deine Rezension zu diesem ohne Frage seltsamen Stück Literatur! Ich finde nach wie vor enorm spannend, welche Gedanken er hervorruft und wie Leser:innen Bedeutung in ihn legen. (Mehr dazu habe ich dir privat geschrieben.) Am liebsten ist mir übrigens deine "'schönste' Idee", die ganz nah bei Gedanken ist, die ich habe.

  • Katla danke für die Eindrücke. Das hat mir auch noch mal ein paar Gedanken zum Verständnis gegeben und meinen Eindruck irgendwie auch bestätigt.


    Schön, wenn es mal so eine intensive Auseinandersetzung mit Literatur gibt.

  • Günstige Umstände brachten mich unlängst in den Besitz des wirklich wunderschön gemachten Buchs. Ein Träumchen, schöner kann eine Geschichte wohl kaum angezogen und umgesetzt werden. Wie schön, dass es solche kunstvoll und mit sichtlicher Hingabe an das Thema gemachten Bücher gibt! Das Spiel mit der Darstellung der aufgerollten Papieraufträge mit ihren Vor- und Rückseiten hat mir ausgesprochen gut gefallen. Ob ich ohne meiner Lektüre vorausgegangenen Rezensionen auf die Referenz zum Golem gekommen wäre, weiß ich nicht. Ich wäre gedanklich vermutlich schon zu sehr auf dem „Meth“-Trip gewesen. Deshalb gehe ich davon aus, dass in diesem Buch insgesamt sehr viel mehr steckt, als ich erkannt und wahrgenommen habe, und weil schon einiges dazu gesagt wurde, dem ich mich anschließen würde, hier nur eine kurze Einschätzung von mir: Das Setting des Romans hat mir sehr gut gefallen und die Geschichte hat einen starken Start. Doch dann ging es mir ähnlich wie Katla und ich habe immer wieder das Gefühl gehabt, dem Text auf der Spur zu sein, um dann zu erkennen, dass sich meine Spur verlor bzw. nicht wieder aufgegriffen wurde/sich die Geschichte in eine andere Richtung schlängelte. Die Aufträge geben der Geschichte optisch die Anmutung eines Rätselbuchs, was bei mir den Gedanken verstärkt hat, dass man etwas „knacken“ kann, eine Erkenntnis eintritt/es eine „Lösung“ gibt. Selbstverständlich ist ein Text nicht dazu da, das zu tun, was ich gern von ihm hätte, doch das Gefühl von Enttäuschung es nicht „geschafft“ zu haben, ist doch das, was bei mir am Ende das Lesen dominierte. Meine persönlichen Unzulänglichkeiten sollen aber bitte keinem künftigen Lesenden den Blick auf eine Geschichte verstellen, die wirklich gut geschrieben ist und sehr intensiv wirkt. Am besten lässt man sich beim Lesen einfach mitziehen und den Detektivkoffer stecken. Hattet ihr als Kinder einen Detektivkoffer? Meiner war von meiner älteren Schwester selbstgebastelt und das Hauptgeschenk bestand wohl darin, dass sie wieder und wieder mit mir damit gespielt hat. Ich als Detektivin, sie als Einbrecherin, Zeugin etc. Kindheitserinnerungen. Ich habe mich gefragt – auch weil ich unlängst in Hellbound Felix‘ Jim Knopf-Hommage gelesen habe – ob wir es in diesem Buch mit einer weiteren Verarbeitung eines Woitkowski-Kindheitslieblingsbuches zu tun haben könnten: Ist E/Meth womöglich eine weirde Horror-Version der „Unendlichen Geschichte“? (Spürnasenhinweise: Das weiße Nichts, das sich ausbreitet, eine Wölfin und der Umstand, dass sich das alles im Inneren eines Buchs abspielen könnte.)

  • In der aktuellen Ausgabe vom Neuen Stern (110) ist die Rezension von Ellen Norten noch einmal abgedruckt. Ergänzt ist sie durch kommentierende Passagen von Thomas Hoffmann, der darin seine Eindrücke zu E/Meth darlegt. Auch wenn er leider kein eigenes Fazit zieht, finde ich diese Form der Buchbesprechung ziemlich großartig und wunderbar passend bei einem Werk wie diesem.

  • Eins ist klar, es ist keine einfache Kost, die Felix Woitkowski mit Emeth serviert. Und ich schließe mich Ina und Katla an, zur Gänze dechiffrieren werde ich das Werk ebenso nicht. Mich persönlich hat es an das Meisterwerk Samuel Becketts´ "Der Verwaiser" erinnert, gleichwohl ich hier das Setting/Surrounding deutlicher innerhalb papierner Seiten verorte. Gregor war für mich eine Reminiszenz, metaphorisch für eine rückwärtsgewandte Verwandlung stehend. Aus der Hilflosigkeit geboren und zum König erkoren. Bei Dreyfuss hätte ich eine Idee, bei Amia stochere ich sehr im Nebel, was mich ärgert. Da geht es mir doch glatt wie Ina, dass ich des Rätselratens etwas leid wurde und nur ich mir dann meiner eigenen Dummheit/Unwissenheit ansichtig wurde. ;)

    Der Lesespaß indes minderte sich dadurch nicht groß, zu spannend war die die mehrdimensionale Reise, durch verschiedene Ebenen, zu groß war das Leid der Bewohnenden, um nicht gefesselt zu sein. Unschuld, Leid, Erkenntnis, Suche, Erlösung, Liebe, Zärtlichkeit und noch viel mehr Leid, all diese große Themen entspannen sich hier in staubigem Grau. Ich habe mich sehr unterhalten gefühlt beim Lesen zwischen den Zeilen.

  • Lieber Vincent, vielen Dank für deine Rückmeldung und deine Bereitschaft, dich auf dieses eigenwillige Werk einzulassen, und vielen Dank euch allen, die ihr hier im Thread eure Eindrücke und Gedanken geschildert habt. Das bedeutet mir viel, und es hilft mir als Autor enorm weiter.


    In der Edition Dunkelgestirn ist übrigens nur noch ein Exemplar zu haben. Wer also seit Monaten mit dem Gedanken spielt, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt um zuzugreifen: https://dunkelgestirn.jimdofree.com/lieferbare-titel/


    Bei Dreyfuss hätte ich eine Idee,

    Der Roman hat eine intertextuelle Verweise in die klassische Phantastik, ist aber nicht als Rätsel konzipiert. Hier interessiert es mich aber schon. Was ist deine Idee, Vincent?

  • Ich habe an die Dreyfuss-Affäre, an Verrat, an Émile Zolas J`accuse denken müssen. Der wahre Schuldige wird freigesprochen.

    ist aber nicht als Rätsel konzipiert

    Das ist aber ganz bös, Felix. ;) Hoffentlich sitzen wir im selben Zug nach Marburg, dann frage ich dich nach Amia aus.

  • Ich habe an die Dreyfuss-Affäre, an Verrat, an Émile Zolas J`accuse denken müssen. Der wahre Schuldige wird freigesprochen.

    Gute Idee. Ich habe über die Figurennamen versucht, die ersten Kapitel durchzunummerieren, was ich bis zu einem Wendepunkt durchhalte, um es dann aufzulösen. Bei der Drei musste ich lange suchen und bin dann bei Goethes Faust II gelandet. Wikipedia dazu: "Auch Goethe benutzt in den letzten Szenen des ersten Akts des Faust II den Dreifuß als Symbol tiefer Erkenntnis, die sich der Magier und Seher Faust bei seinem Abstieg in die Unterwelt, dem „Gang zu den Müttern“, mit einem Schlüssel eröffnen soll." (https://de.wikipedia.org/wiki/Dreifu%C3%9F) Aber wer ist schon der Autor! Dein Ansatz gefällt mir besser! Zumal ich mich überhaupt nicht qualifiziert fühle, auch nur irgendetwas zu diesem Drama, dessen Inhalt einfach nicht in meinem Kopof bleiben will, zu sagen.

    Das ist aber ganz bös, Felix. ;) Hoffentlich sitzen wir im selben Zug nach Marburg, dann frage ich dich nach Amia aus.

    Du meinst Dreieich? Welchen Zug nimmst du? Im Zweifelsfall treffen wir uns eh wieder enorm verspätet in Kassel.