David Cronenberg: Stereo | Scanners

  • David Cronenberg

    Scanners - Kanada 1981 (Drehbuch, Regie), 103', mit: Stephen Lack, Jennifer O'Neill, Patrick McGoohan, Michael Ironside. Kamera: Mike Irwin, Score: Howard Shore. Originaltrailer / Kopfszene.

    Stereo - Kanada 1969 (Drehbuch, Regie, Kamera, Schnitt, Produzent), 63 Min. s/w mit Voice Over, keine Dialoge. Budget: $ 8.500,-. Trailer (der ganze Film steht auch in HD online).


    Auf Scanners hab ich über 40 Jahre gewartet: damals mit 14 oder 15 Jahren die Aushänge vor meinem Lieblingskino gesehen, gestaunt und keine Möglichkeit gefunden, da reinzukommen - meine horroraffine Mutter, die mich Zwölfjährige in Alien begleitete, hatte zuvor Texas Chainsaw Massacre und einen unbekannten französischen (?) Tollwut-Zombiefilm gesehen und meinte, alles klasse, aber jetzt reiche es erst mal mit so viel Splatter. Bis ich sie überreden konnte, lief der Film nicht mehr. Ich war determiniert, Scanners uncut auf großer Leinwand zu sehen und das wurde eben erst vorgestern auf dem Helsinkier Night Visions Festival etwas. Und als Sahnehäubchen war dort noch Michael Ironside zu Gast!


    Der Film hat mir wirklich ganz enorm gut gefallen. Er startet in medias res, ohne dass die Figur eingeführt oder die Umstände erklärt werden - das finde ich ganz vor allem begrüßenswert, weil man ja heute ohne 40 Minuten-Intro mit Backstory und Verortung im sozialem Umfeld nicht zu dem kommt, weswegen man eigentlich im Kino sitzt. Sämtliche Rollen sind klasse besetzt und super gespielt (Ironside mit einigem overacting, aber es passt), die spekulative Logik ist stringent, der Plot gradlinig mit vielen zu entdeckenden Geheimnissen und einem schönen, nicht überzogenen Twist. Ich hätte nicht sagen können, wer sich eigentlich als Prota- und wer als Antagonist herausstellt / das Gut-/Böseschema ist nicht zu platt und es gibt ganz wunderbare Kameraführung, -winkel und Frames. Ein Fan von practical SFX bin ich eh und die waren schön inszeniert, fies und vor allem ausführlich on screen - davon kannte ich schon einiges aus Trailern, aber so auf großer Leinwand mit der Raumtiefe eines ursprünglich 35mm Films ist es eben echt fantastisch anzusehen. Und ziemlich eklig, auch mit heutiger Sicht und trotz einigen offensichtlichen Tricks (Evil Dead hatte es im gleichen Jahr mit den nicht ganz so monochrom grell-weißen Linsen besser getroffen).



    Scanners hat massig liebevolle Details - ein Favorit war der schmelzende Telefonhörer -, lässt sich mit den Figuren / der Geschichte die nötige Zeit und kommt angenehmerweise ohne Liebesgeschichte / romantic interest aus. Dass im Film faktisch keine Teenager oder Kinder vorkommen und alle Singles sind, hebt ihn ebenfalls positiv von aktuelleren Streifen ab, wo es imA viel zu oft um Familien und den Horror geht, der in ihren Alltag einbricht.


    Auch, wenn ich ständig gegen das Thema der 'Repräsentation von RL-Identitäten in Fiktion' polemisiere, hat es mich hier doch mit der Hauptfigur kalt erwischt: Stephen Lacks Cameron Vale ist extrem sensitiv, was "Geräusche" in seiner Umgebung angeht (weil er eben die Gedanken der Leute hören kann bzw. muss), und da zeigt Scanners eine damals unabsehbare Aktualität: wenn zur Zeit des Films Leute allein in der Öffentlichkeit waren, hielten sie eben den Mund. Als eine, die ohne Smartphone und Ohrstöpsel-Musik rumläuft, macht es mich echt irre, dass ständig, überall und pausenlos laut gequatscht wird, dass Leute ständig Videos/Musik in Bus & Bahn laut gestellt haben und man diesem ungeheuren Lärmteppich einfach nicht entkommen kann - da gibt es einfach 1:1 analoge Szenen im Film. Auch die Analogie zwischen den elektrischen Impulsen in Computern einerseits und im biologischen Nervensystem andererseits, der Idee einer Kommunikation oder Verbindung zwischen beidem und überhaupt das 'Scannen' dürfte für die Mehrheit des Publikums damals ganz schön innovativ gewesen sein.


    Was mir zudem auffiel: das X-Men Franchise - v.a. die ersten drei Kinofilme - haben ja nahezu absolut identischen Plot & Prämisse, nur eben mit stärker Fantasy-lastigen Superkräften/Figuren. Kennt sich jemand besser mit Marvel aus und kann sagen, ob es da explizite Referenzen oder Verweise gibt?


    Michael Ironside - etwas gehandicappt von Gedächtnisschwund, den er abwechselnd auf ehemaligen Alk/Drogenkonsum, ADHS und einen Schlaganfall zurückführte - hat einen grandiosen, schwarzen Humor (Nachdem er gerade über Jeremy Irons hergezogen hatte zu einem Zuschauer mit Handykamera: "If you put this online, I'll come back and kill you!") und erzählte viele Details vom Dreh: Dass die Kontaktlinsen durch das Feuer vor ihm an der Netzhaut festsaßen und "abgeschabt werden mussten", wodurch er den Abend lang blind war; dass der platzende Kopf erst eine lahm aussehende Explosion war (noch im britischen Original Trailer zu sehen), dann mittels eines mit Streublei gefülltem Gewehrs gelöst wurde. Ironside sollte neben der geriggten Puppe sitzen bleiben - er verlangte eine Millionen Versicherungssumme, die SFX-Leute schworen, dass alles sicher sei. Dann kam Cronenberg, guckte sich alles an und meinte: "Oh, da hat noch keiner dran gedacht!" Ironside durfte also Abstand halten, die Munition durchschlug den Holzstuhl, auf dem er hätte sitzen sollen, so extrem, dass der in zwei Teile zerfiel.

    Die Szene wurde an einem Abend gefilmt, in der University of Toronto und im gleichen Hörsaal, in dem Cronenberg Sr. später Filmvorträge halten und seine Tochter Caitlin Cronenberg Mode/Fotografie studieren sollte. (Sie dreht Kurzfilme, die mir - auch in der Raumkonzeption - wesentlich besser als Brandons gefallen, z.B. den einminütigen The Death of David Cronenberg.)


    Als Obendrein-Bonus gab es für meine Rohbetonleidenschaft prominent eingesetzte Brutalismus-Gebäude (ein Schelm, wer an Resident Evils Umbrella Corporation denkt) und massig Sichtbeton, der nicht nur zufällig im Hintergrund zu sehen war. Eine kurze Suche führte mich zu einem Essay über Sex & Brutalismus in Cronenbergs Debutfilm Stereo, der mir bislang komplett durchgerutscht war und den ich am näxten Morgen anschaute ...



    Michael Ironside betonte, was für ein enorm talentierter Schauspieler Stephen Lack sei, vor allem, da er keinerlei entsprechende Ausbildung habe, sondern Künstler sei. Ich fand ihn auch extrem beeindruckend, intensiv und sehr sympathisch. Hier einige Bilder, es gibt auch buntere / fröhlichere wie auch sozialkritische Sujets gegen Waffengewalt, Armut und Krieg. Insgesamt erinnern mich die Werke stark an die abstrakteren von David Hockney und auch an Edward Hopper, die ähnliche Sujets / Settings und Farbgestaltung haben. Lacks Gemälde werden in einer Vielzahl wirklich prominenter, großer amerikanischer Museen ausgestellt und über Auktionshäuser verkauft.

    Interessant, dass es auch in Scanners einen Künstler gibt, der sehr schräge, teils überlebensgroße Gipsfiguren schafft (s.o.).




    Stereo ist mit seiner Stunde dialogloser Laufzeit wie eine sehr eigenständige Vorstudie zu Scanners: Es geht um eine Versuchsanordnung in einem Institut für Parapsychologie, wobei eine kleine Gruppe telepathisch und telekinetisch Sonderbegabter Kommunikation ohne gesprochene, teils auch ohne gedachte Sprache kommunizieren sollen. Dabei wird gesagt, direkte körperliche Nähe sowie erotische Anziehung seien die Grundvoraussetzungen für den Erfolg. Dazu nehmen die Versuchspersonen eine Droge namens amor vincit omnia / Die Liebe besiegt alles. Der sehr ruhige, absolut grandios gefilmte Streifen kommt ohne offensichtlichen Horror aus, und auch die Erotikszenen sind sehr natürlich-verspielt. Das SF-Setting wird gebrochen von den Kostümen der männlichen Probanden, die an viktorianische Gothic-Horror-Bösewichte oder an postmoderne Shakespeare Inszenierungen erinnern.


    Vor allem aber ist Stereo dies: Ein Architekturfilm und eine leidenschaftliche Liebeserklärung an den Brutalismus. Ich war vollkommen geflasht. Cronenbergs Kamera sucht genau die Winkel, Perspektiven und die Beleuchtungen aus, die so enorm typisch für brutalist Fotodokumentation ist, und bis auf wenige Minuten (!) ist Sichtbeton in jeder Szene, teils sogar im Fokus, während die Schauspieler im Vordergrund unscharf bleiben. Ein unglaublich perfekter Kunstfilm, der eine ungeheuer kraftvolle wie auch sensible Bildsprache hat. Auch, wenn der Plot nur langsam voranschreitet und die Dramen eher subtil verhandelt werden, einer der besten Filme, die ich in den letzten Jahren sah. Gefilmt in der University of Toronto Scarborough.


    Noch weniger als ohnehin schon gefällt mir jetzt Brandons Kurzfilm Please Speak Continuously and Describe Your Experiences as They Come to You, der eigentlich nichts ist als ein visuell altmodisches Remake des Debuts seines Vaters: Kunstfilm (ohne aber ein ansatzweise vergleichbares Verständnis von Raum/Frame/Perspektive), parapsychologische Experimente, die auch Raum & Zeit bzw. deren Wahrnehmung verändern, voice over-artige Aussagen anstelle von lebensechten Dialogen. Hm, echt jetzt?




  • Noch ein paar schöne Impressionen von Michael Ironside, dem Posterboy. (Es liefen mehrere Filme mit ihm, unten links sicher die Masterclass, Scanners war jedenfalls ausverkauft - das Kino ist eines der kleineren, hat aber einen rundlaufenden ersten Rang zusätzlich). Quelle: FB Site des Festivals.