Antoine Volodine - Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher

  • Nils machte hier darauf aufmerksam, dass es eine neue Übersetzung eines Werkes von Antoine Volodine gibt: Vermischtes aus dem Radioprogramm


    Antoine Volodine

    Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher


    Roman · Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Holger Fock

    OT: Lisbonne dernière marge

    ET: Januar 2023

    Seiten: 320

    Ausstattung: HC, gebunden, Lesebändchen, bedruckter Vorsatz

    ISBN: 978-3-949558-14-6

    Preis: € 25,00 [D] / € 25,70 [A]


    Von der Verlagsseite:


    Der große Roman – endlich auf Deutsch – des vielfach preisgekrönten Autors von Alto Solo (1992), Dondog (2005), Mevlidos Träume (2011), alle Ü Holger Fock.

    „Dort standen die beiden, Ingrid Vogel und Kurt Wellenkind, die bewaffnete Untergrundkämpferin und der Leiter der Sicherheitsgruppe, Hüfte an Hüfte am westlichsten Punkt des atlantischen Europas; eng umschlungen lehnten sie an einer zweihundert Jahre alten Kanone und beobachteten das lautlose Gleiten der Boeing in Richtung Flughafen.“

    Sie sind ein ungewöhnliches Paar – das ehemalige RAF-Mitglied Ingrid und ihr Jäger aus dem BKA, der ihr zur Flucht verhilft, hatte er sich doch beim Lesen ihrer Fahndungsakte samt Foto unsterblich in sie verliebt. Die letzten gemeinsamen Tage verbringen sie in Lissabon, der Stadt des Dichters Pessoa, der Exilanten auf der Flucht vor den Nazis, der Nelkenrevolution. Zwischen ihnen steht Ingrids Schlüsselroman, den sie im fernöstlichen Exil schreiben will und den ihr Geliebter ihren Gedanken „abliest“, raffiniert eingeflochten in die verschiedenen Erzählebenen.

    Ingrids Roman im Roman spielt in einer Gesellschaft namens Renaissance, die hinter einer sozialdemokratischen Fassade von einer geheimnisvollen Macht beherrscht wird, den Bienenkörben. Sie agieren im Verborgenen und kontrollieren die von kollektivem Gedächtnisverlust befallene Gesellschaft, deren Individuen keinerlei Erinnerung an ihre Kindheit haben. Wissenschaftler und Intellektuelle forschen zu verschiedenen Zeiten in Kollektiven nach ihrer Herkunft und ihrer Geschichte. Ihr Schrifttum, niedergelegt in Archiven, bildet die dritte Handlungsebene des Romans. Ingrid verschlüsselt hier ihre Erfahrungen aus dem Untergrundkampf und erweist sich als die stärkere Akteurin, da leidensfähiger, kampferprobter: Niemand wird ahnen, dass ich eine wahre Geschichte unserer Epoche geschrieben habe.

    Volodine verfolgt die literarische Strategie der Unsicherheit, nie kann der Leser, die Leserin ganz sicher sein, wo er oder sie sich befindet, da alles sich aus der Vorstellungswelt der Protagonisten entwickelt. Eins ist jedoch spürbar: Hier wirkt eine untergründige Erschütterung, die immer wieder offen als das aufbricht, was sie ist: die Folge von Gewalterfahrungen, die über die Jahrzehnte weitere Gewalt nach sich ziehen, und die Trauer um eine verlorene, vielleicht nie als solche existente Utopie (da immer schon mit der Gewalt vermählt).

    Mit großer poetischer Kraft und unbezähmbarer Phantasie entwirft der Autor ein Requiem der Nachkriegswelt, in dem er der Zeit der linken Gruppen in Europa zum Abschied zuwinkt, die gängigen Totalitarismen auseinandernimmt, seiner Frustration über das Scheitern aller Revolutionen zum schmerzlichen, teils sogar erschreckend humorvollen Ausdruck verhilft. Literarische Politfiction von atemberaubendem Sog.



    Verlagslink: https://www.edition-converso.c…le-der-f%C3%A4lscher.html


    Kennt jemand von euch das Buch schon?

  • Kennt jemand von euch das Buch schon?

    Nein, ich habs am Wochenende erst gesehen, es kam aber auch grad erst raus. Die anderen drei deutschen Übersetzungen kenne ich und finde die ausgesprochen gut. (Auf dem Level von Jordan Stump und besser als Mahany oder Zuckerman bei den englischsprachigen Publikationen).

    Da Volodine - trotz seiner antistalinistischen Grundhaltung - gelegentlich zu einer etwas unangenehmen Sowjet-/Kommunismus-Nostalgie neigt, wollte ich eigentlich einen Bogen um das Buch machen. Ausnahmsweise. Aber die Vorstellung des Verlages klingt ganz anders als die Ankündigung der Radiosendung, und ich habs grad bestellt. Ich leide eh schon unter Volodine-Entzug, und kann neuen Input gebrauchen, weil ich mich gerade an einer post-exotischen Kurzgeschichte versuche (nicht so einfach, will man nicht kopieren - und selbst Kopieren wäre immer noch eine Herausforderung!).


    Vielen Dank für die Präsentation! :*

    Ich mache mal zart drauf aufmerksam, dass es hier einen Sammelfaden zu verschiedenen Büchern von Volodine et al. gibt, ungeachtet in welcher Sprache die Publikation herauskam. Vielleicht findest du weitere volodinsche Werke, die dich interessieren, es wäre so schön, wenn der Autor mehr Leser bekäme!

  • Lieber Felix , kurze erste Rückmeldung: Ich bin noch mitten in meinem Architektur-Sachbuch, habe aber schon mal reingeschaut - es klingt als erstes Buch von ihm null nach Volodine. Würde es nicht auf dem Titel stehen, wäre die Rede nicht von 'Post-Exotizismus', und das Thema 'Schriftsteller als Dissidenten / im Gefängnis', hätte ich ihm das niemals nie zugeordnet. Krass. Es ist ein recht nüchterner Stil, mal schauen, ob er auch weiterhin eher auf dem Boden der Tatsachen bleibt. Soweit ich das an diesem Punkt sagen kann, auch als erstes Buch (das ich von ihm kenne, da mag es natürlich anderes geben) sehr character-driven, anstatt dem Setting oder dem Thema / Motiv den Vorrang zu geben. Erstaunlich.

    Bin mal gespannt, wie's weitergeht ...

  • Ich habe es mir gestern vorgenommen und bin berhaupt nicht reingekommen. Vielleicht fehlt mir einfach Hintergrundwissen aus der Zeit, vielleicht ist es aber auch einfach nicht das richtige Buch zur rechten Zeit und mein Leben gerade zu trubelig. Wer weiß ... Ich warte deshalb erstmal deine Eindrücke ab, bevor ich weiterlese/neu starte.

  • Ich habe es mir gestern vorgenommen und bin berhaupt nicht reingekommen. Vielleicht fehlt mir einfach Hintergrundwissen aus der Zeit, vielleicht ist es aber auch einfach nicht das richtige Buch zur rechten Zeit

    Ging mir genauso und ich hatte auf S. 55 schon vor abzubrechen. Dieses komische Liebesverhältnis geht mir total auf den Sack, diese ständigen Spitzen und das neckende Angezicke (sowas kann ich auch im RL absolut nicht ab), dümmliche Turtel-Anreden ("meine Dogge" herrje noch mal) und dann eine gnadenlose Phrasendrescherei von Abgründen, die sich vor den Protas auftun über klopfende Herzen und was weiß ich, da wird ja nix ausgelassen. Da bin ich allerdings unsicher, ob das nicht dem Übersetzer anzulasten ist - Volodine neigt sonst nicht dazu, allerdings ist dieser Roman ja auch von 1990 und war sein erst 5. Werk in der Reihe (mit bereits veröffentlichter SF). Irgendwie klar, dass sich in 33 Jahren handwerklich und stilistisch was getan haben muss!


    Jetzt bin ich fast auf der Hälfte und finde es sehr interessant, werde es auch beenden. Dringehalten hat mich erst mal simplerweise, dass mein Geburtsort erwähnt wird und ich einfach neugierig bin, ob da noch was kommt (Wiesbaden - die RAF hatte in der Dotzheimer Str. - bei uns im Viertel - eine konspirative Wohnung über der zweitbesten Eisdiele der Stadt, da saßen wir oft draußen; meine Mutter arbeitete im Hessischen Landtag und eine Tante im Innenministerium; und mein Vater war - obwohl alles andere als rechts - so hysterisch, dass ich als Kind nicht in die Stadt durfte, um nicht bei einer Kaufhausbombe hochzugehen).


    Und so ziemlich auf der Höhe verlässt er auch die Rahmenhandlung mit dem dusseligen Paar und Lissabon, und schiebt einige recht schräge, auch weniger konventionell geschriebene Zwischensequenzen ein (die sich eventuell später als die eigentliche Rahmenhandlung herausstellen, ich hab da so ne Idee ...). Das sind v.a. die kursiv gedruckten Passagen.


    Inzwischen lese ich das Buch rein analytisch: Ich finde es rasend spannend, dass man hier die Entstehung, den Kern seines späteren Werkes erkennen kann, und das fasziniert mich extrem. Parallel zu meiner Leserichtung wird im Buch thematisiert, dass die revolutionäre Prosa der fiktiven Literaten, die "Schaggå", später von Ethnologen untersucht / kategorisiert wird, und ebenso kann man aus heutiger Sicht eben mit diesem Buch verfahren.


    Nach diesem Buch (darauf folgt 1991 Alto Solo, das ich anfangs schwergängig fand, aber das sich sehr krass und schockierend zugespitzt entwickelt und das viel, viel besser geschrieben ist) ändert Volodine sein Setting und seinen Weltenbau. Verglichen mit der "Seele der Fälscher" erkenne ich:

    - Was hier der diktatorische "Bienenstock" in Mitteleuropa ist, wird zur dystopischen 2. Sowjetunion mit seinem weltenumspannenden GULAG-System.

    - Die Untergrundbewegung "der Ameisenhaufen" (alles Literaten und Musiker) wird zu den "verstorbenen Dissidenten", die inhaftiert sind und dort ihre post-exotischen / politischen / autobiografischen Werke schreiben.

    - Diese Opposition - in "Fälscher" noch mit der RAF verbunden - schreibt im späteren Werk als Kollektiv post-exotische Werke (Schaggås, die er später in 'Narracts' umbenennt bzw. da einen Dachbegriff erfand), wobei wie im RL dann die herkömmlichen Grenzen zw. Autor / Erzähler / Figur eingerissen werden und die Autoren zudem selbst Figuren im Werk sind (da hat Holger Fock auch entweder einen Übersetzungsfehler oder eine wichtige Fußnote vergessen: Er bezeichnet ein Mal eine Figur in den fiktiven Werken als "Person").

    -"Fälscher" lässt sich als Vorläufer bzw. Spiegel zu Volodines Writers (2010) lesen, in dem ebenfalls eine stark politische / politisch-fakehistorische Erzählung mit der Vorstellung von fiktiven Werken der semi-fiktiven verfolgten Literaten in einer Diktatur verknüpft wird. Die Parallele ist so stark, dass ich Lust hab, Writers noch mal zu lesen, das mich wegen der sozialistischen Programmatik extrem genervt hat. Und ebenso sind diese beiden Romane weitaus weniger spekulativ als andere Werke.

    - Die Zeitrechnung verändert sich: In den "Fälschern" zählt Volodine in Jahrtausenden 1. plus in die Zukunft ... (ich denke, als Nullpunkt stehen die beiden ersten Weltkriege); im späteren Werk verzichtet er entweder auf ein Datum und es ergibt sich über reale Verortung (z.B. Tschornobyl / Havarie Reaktor 4 + 150 Jahre alte Protas) oder er zählt von unserem Kalender weiter ("80.000 Jahre in der Zukunft" in u.a. Radiant Terminus).

    - Die RAF mit v.a. ihren herausgestellten Frauenfiguren ändert sich auf einerseits eine Reihe alter, zahnloser, Parolen schreiender Kommunistinnen, die eine eher negative / humorische Rolle haben und andererseits zu dem literarischen Untergrund der schreibenden Dissidenten im dystopischen GULAG (Heldinnen, auch über die beiden weiblichen Namen, unter denen Volodine publiziert, Elli Kronauer und Manuela Draeger, mit ihren fiktionalen Biografien als Figuren im Werk).


    Interessant ist übrigens auch das Nachwort des Übersetzers, der erzählt, wie er 30 Jahre lang mit seinem Manuskript hausieren ging (nachdem er den Roman aus eigener Begeisterung und in Eigenregie übersetzt hatte) und es niemand drucken wollte.


    Wie man es dreht und wendet: "Fälscher" fällt stilistisch aus dem Kosmos 'Volodine' heraus - es ist allerdings chronologisch gesehen auch das erste Buch, das ich von ihm lese.

  • Danke für deine Eindrücke, Katla. Du sprühst auch hier wieder so voller Begeisterung für diesen Autor, dass ich Lust bekomme, etwas von ihm zu lesen. Aber ich glaube, ich nähere mich ihm doch erstmal mit einem anderen Werk. Ich kenne ja noch nicht alles, was ich auf deutsch von ihm erschienen ist.

  • Hier ist übrigens ein langes, sehr spannendes Interview des englischsprachigen Übersetzers desselben Buches, das 2018 als Lisbon, Last Frontier erschien.

    Andrew Wilson auf Evergreen. com: "A Conversation with Antoine Volodine" (undatiert)


    Ist in den beschreibenden Teilen sehr interessant im Vergleich zu Holger Focks Nachwort, nämlich sehr stark aufs Werk und den Autor (die "Autoren") und viel weniger selbstzentriert auf die eigene Situation, das eigene Schaffen bezogen.


    Die englische Fassung liest sich doch reichlich anders, Auszüge hier und hier. Offenbar ist die "Dogge" eine "Bulldogge", was schon etwas mehr Sinn ergibt, ich dachte an eine Dänische und konnte mir keine passende Symbolik dafür denken. Jetzt überlege ich tatsächlich, das deutsche Buch abzubrechen und mir das englische anzuschaffen.

  • Felix Also, das englische Buch steht als Teaser online, aber das scheint nicht komplett oder zumindest nicht zu kaufen zu sein. Hab mich also durch das deutsche gequält und bin durch: Nicht weiterlesen!


    Herrje, Volodine gehört zu meinen absoluten Lieblingsautoren, dass ich sowas mal sagen würde ... ;( Kurzum: Ich finde es schlichtweg unerträglich. Es ist nahezu vollkommen anders als jedes Werk, das ich kenne - auch wenn sich wie gesagt Themen, Motive etc. hier als Nukleus finden lassen. Alles ist aber extrem schwergängig, heavy handed, wirklich ganz unangenehm RAF-glorifizierend und mit Ostalgie durchschossen - sehr seltsam, weil Volodine Letzteres neulich in einem Interview bei seinem einen weiblichen Heteronym selbst kritisierte. Das Buch wird nach hinten raus immer dümmlicher und sinnfreier, ich kann beim besten Willen auch keine Kritik erkennen, außer generell an Polizeistaaten (und das trifft auf viele Länder zu, aber nicht auf Deutschland, auch nicht zur Zeit der RAF-Hysterie) und an tendenziell repressiven Regierungsformen. Also, Leute killen und so ist jedenfalls keine demokratische Antwort.


    Abgesehen davon, dass mir das zu propagandistisch ist (mir sind Volodine / Bassmann ... sehr viel lieber, wenn sie Kritik üben, ohne konkrete Gegenkonzepte anzubieten), finde ich den Roman stilistisch unausgegoren und sprachlich schwach. Salopp gesagt: unter aller Kanone. Das laste ich zum Teil dem Übersetzer an, denn die englischen Passagen sind nicht so übel, bzw. gibt es Stellen im Deutschen, die absolut keinen semantischen Sinn ergeben und bei denen man die Fehlübersetzung sogar ahnen kann. Der Aufbau ist chaotisch und imA kontraproduktiv, lässt mit seiner - intellektuellen wie konzeptionellen und stilistischen - Schwerfälligkeit die surrealistische Genialität vieler seiner anderen Werke vermissen.


    Keinen Plan, wie Volodine sich ein Jahr vor Alto Solo zu sowas versteigen konnte.

    Raten würde ich als Einstieg zu: Dondog (Suhrkamp), Radiant Terminus (Open Letter), We Monks & Soldiers oder Minor Angels (beide: University of Nebraska Press, von Jordan Stump, dem besten englischen Uebersetzer). Doch ganz gut, dass dieses Buch abseits vom übergreifenden Volodine-Faden steht ... [skul]

  • Vielen Dank auch für diesen Zwischenstand/Abschluss! Weil sich deine Beiträge hier deutlich interessanter lesen als der Romananfang, wird das Buch wohl den anstehenden Umzug nicht überstehen. Schade.