Andrey Iskanov: Philosophy of a Knife (2008, dt. synchronisiert 2022)

  • “Death has always asked man more questions than he can answer.”


    Philosophy of a Knife

    RUS / USA 2008

    Regie, Drehbuch, Kamera, Schnitt, Interviews, Maske / SFX: Andrey Iskanov

    Unearthed Films Production

    Laufzeit: 247 ‘. Farbe (Interviews), s/w (Spielfilmszenen)

    Mit: Yukari Fujimoto, Yumiko Fujiwara, Svyatoslav Iliyasov, Tatyana Kopeykina, Manoush

    Soundtrack: Alexander Shevchenko

    Official FB-Page

    Iskanov Films Homepage (engl.) | Pathreon


    In Vorbereitung: Deutsche Synchronisation (möglicherweise als voive over), HD DVD 4-disc Edition. ASTRO Records & Filmworks, DE, Infos auf FB.

    September 2022: Erstmalig als BluRay, HD 3-disc + Photobuch, Bonusmaterial, Soundtrack. UT: deutsch, engl., franz., ital. Cover Artwork: Shin Nagai. Tetro Video – Horror Film Distribution. Infos auf FB.

    Nur noch 2nd hand / vergriffen: 2-disc DVD + 1 CD remastered edition / director’s cut + Bonusmaterial. Limitiert auf 500 Exemplare. Last Exit Entertainment (SWE) / Black Lava DE, Engl. UT. Cover Art: Ryohei Miyaji


    Auf den Film kam ich damals tatsächlich beim Stöbern, er steht auf fast allen der “10 extremsten Horrorfilme”-Listen, und ein Filmblogger schrieb offenbar ernsthaft abgestoßen, wer den Film ein zweites Mal anschaue, könne nur psychisch gestört sein. Okay hm, ich hab ihn drei- oder viermal gesehen.

    Philosophy of a Knife steht dort z. B. neben Grotesque, der Guinea Pig-Reihe, Mermaid in a Manhole etc. und passt erst mal oberflächlich, da PoaK eben auch sehr extreme Gewalt / Folter ohne Schnitt onscreen zeigt. Allerdings gehört er eigentlich nicht in die gleiche Kategorie: Obwohl 50% des Films Spielfilmsequenzen sind (also auch alle Gewaltszenen), ist er nicht plot-los und vor allem nicht spekulativ wie alle anderen gelisteten Extremfilme.


    Behandelt wird das japanische Unit 731 von Harbin (heute chinesisches Gebiet), wo mithilfe von Humanexperimenten an biologischen und chemischen Waffen geforscht wurde, und das bis zum Ende des 2. Weltkriegs bestand. Fast alle Ärzte und Verantwortlichen bekamen von den amerikanischen Behörden eine neue Identität und Visas, weil dort Menschenversuche verboten waren, man aber auf die Informationen nicht verzichten wollte.

    Von den Versuchen selbst gibt es – anders als aus den deutschen KZs – nur sehr wenige Archivphotos, darunter solche von Vivisektion durch einen der Haupttäter, den Mikrobiologen General Shirō Ishii (unten links in der ersten Collage; vermutlich nannte Tarantino Lucy Lius Figur in Kill Bill entsprechend, bissl geschmacklos). Die Versuche umfassten: Auswirkungen von Flammenwerferbeschuss, Phosphor, Erfrierungen / kochendes Wasser, Syphillis-Ansteckungen, Vivisektionen (Autopsie am lebenden Körper), Ausweidungen, Häutungen, Vergewaltigungen / Zwangsschwangerschaften, Tod durch Hitze oder Erschöpfung oder Blutverlust durch viele kleinere Wunden. Zudem wurden biologische Waffen über Land abgeworfen. Insgesamt starben durch die Experiemente des Unit 731 eine halbe Millionen Menschen, ca. 10.000 davon durch individuelle Versuche. Die Opfer waren Chinesen, vor allem aus ländlichen Gebieten, auch Russen und einige wenige Amerikaner; Gefangene wurden – wie auch in den sowjetischen GULAGs – “Baumstämme” (engl. logs) genannt, weil Tote auf ebensolche Weise geschichtet wurden.


    In den Ruinen der Anlage, die nach dem Krieg gesprengt wurde, befinden sich heute Museum und Gedenkstätte. Es gibt es auch ein Sachbuch dazu: Hal Gold: Japan's Infamous Unit 731: Firsthand Accounts of Japan's Wartime Human Experimentation Program. Tuttle Classics. 2019.


    Das hier ist Realität:


    Philosophy of a Knife stellt also diese belegten Versuche nach, ohne sie zu fiktionalisieren. Andrey Iskanov betont, alles am Film beruhe auf belegter Historie (sogar die seltsam erscheinende Liebesgeschichte zwischen einem japanischen Wärter und einer Gefangenen), bis auf ein einziges winziges Detail. Die Hälfte des Films sind Aufnahmen von Interviews, die Andrey mit Anatoly Protasov führte, einem pensionierten Arzt und Übersetzer, der damals selbst mit Zeugen und auch Lagerpersonal gesprochen hatte.

    Der Film hat durch all diese Umstände ein Alleinstellungsmerkmal, das eine Kritik wie ‘Wichskino für Perverse’ ziemlich sinnlos macht. Selbstverständlich sind die nachgestellten Szenen in einer Bildsprache gefilmt, die aus Splatterfilmen bekannt sind, aber oft auch an die nüchterne Art von alten Archivfilmen erinnert oder – noch stärker – an den klassischen Surrealismus (v.a. Buñuels Un Cien Andalou / Ein Andalusischer Hund), der sich auch in anderen Iskanov-Filmen finden lässt. PoaK positioniert sich so nicht nur im Horrorsegment, sondern fordert ernsthaft heraus, sich realen Grausamkeiten und Verbrechen zu stellen, ist eher ein Schlag gegen naiven Humanismus als gegen den guten Geschmack.


    Unit 731 ist in mehreren weniger extremen Spielfilmen behandelt worden, u.a. Men Behind the Sun lit. 'Schwarze Sonne', es gibt Metal Bands und wohl sogar Computerspiele (naja also ...), die sich darauf beziehen. So ganz kann ich mich damit nicht anfreunden, zumal ich Men Behind the Sun auch ziemlich pathetisch finde, der Film kann sich nicht so richtig entscheiden, ob er harsch oder kitschig-heroisch sein möchte.


    Ein paar unverfänglichere Standbilder aus PoaK:


    Andrey Iskanov ist ein ehemaliger Modefotograf, und ein ausgebildeter Maskenbildner, der sämtliche Special Effects (practical, nie CGI) selbst kreiert. Er wurde 1976 in Khabarovsk, Russland, direkt an der chinesischen Grenze geboren und lebt noch heute dort. Er dreht eigenproduzierte Spielfilme und für internationale Bands (Industrial, Goth) auch Musikvideos; abgesehen davon engagiert er sich im Tierschutz (Straßentiere, v.a. Katzen), und ist Advokat für StopCrush.org, eine internationale Organisation gegen Snuff-Videos mit Tieren. Er sprach sich seit Jahren öffentlich gegen die russische Regierung und Putin aus, und auch neuerdings gegen den Krieg (Ende Februar: “Putin ist scheiße, das hab ich schon immer gesagt, der Krieg ist scheiße und ich kann seit heute wegen diesem Post für 3 Jahre in den Knast kommen!”)


    Auch, wenn es das Klischee ‘verarmter Künstler’ bedienen mag: Andrey steckt all sein weniges Geld in seine Filme, und verzichtet dafür sogar auf eine Matratze.

    Wer eine wirklich eigenständige (und auch widerständige) Stimme im Horrorfilm unterstützen möchte, kann über Pathreon spenden – dort gibt es auch Bonusmaterial und News -, oder erst mal in der Facebook support group schnuppern gehen. Dort lässt sich auch sehen, welche DVDs legal zu erwerben sind, Andrey hat ein massives Problem mit Raubkopien (vor allem aus deutschsprachigen Ländern), die sogar in offiziellen Webshops angeboten werden, weil eben kaum jemand durchblickt, was Bootleg und was official merch ist (das blaue gezeichnete DVD Cover, das sogar auf imdb steht, ist z.B. ein Bootleg). Dieses Problem ist so groß, dass es die Filmproduktion verzögert und Andrey verliert darüber auch massiv Einnahmen.


    Ich kenne Andrey seit über 10 Jahren (Emails, selbstverständlich), weil ich ihn um Genehmigung für den Abdruck eines Zitats aus Philosophy of a Knife bat, woraus Übersetzungen für Last Exit Entertainments Anwälte wurde (deutsche und schweizerische Copyright-Gesetze) und inzwischen heißt sein – von ihm gespielter – Held in seinem aktuellen Breaking Uroboros 'Brandt'. Ein Szenenfoto aus dem bislang unveröffentlichten Film fand in meinem Essay fürs Science Fiction Jahrbuch 2022 Verwendung. Ich nehme also die beiden deutschsprachigen Neuerscheinungen zum Anlass, ein kleines Bisschen die Werbetrommel für ihn zu rühren.


    Mein Favourite bei den Spielfilmen ist Visions of Suffering (sehr alptraumhaft-surrealistisch!).