Emilie Autumn - Die Anstalt für ungehorsame viktorianische Mädchen

  • Am Wochenende beendet:

    Ich bin mir gar nicht sicher, ob mir Emilie Autumn ein Begriff war, bevor Katla sie in diesem Forum mal erwähnt hat. Ich habe daraufhin jedenfalls in ihre Musik reingehört und würde mich nicht unbedingt als Fan bezeichnen. Ihr Buch hat mich aber von Anfang an extrem interessiert und Erinnerungen an "Unten" von Leonora Carrington oder "Die Glasglocke" von Sylvia Plath geweckt.

    Generell finde ich das Thema Anti-Psychiatrie immer interessant. Auch, oder vielleicht gerade weil ich mich beruflich auf der Seite des "Feindes" befinde.


    Meine Meinung:

    "Der Hund hatte mich gefunden (...) Da war ich schon nicht mehr da. (...) Ich empfand keine Furcht, keine Angst, nur Erleichterung... Erleichterung, dass ich meine Entscheidung getroffen und durchgezogen hatte. Jetzt gab es nichts mehr zu tun, nur noch liegen und warten, liegen und warten, liegen und warten..."

    So beginnt Emelie Autumns Roman, in dem sie gnadenlos offen, aber auch extrem pointiert über ihren erfolglosen Suizidversuch und ihren anschließenden Aufenthalt in der Psychiatrie berichtet. Dabei geht es, gerade am Anfang, auch viel um ihre negativen Erfahrungen, die sie mit Männern gemacht hat - Was wohl einige "Kritiker" (lies: Incels/ toxische Vollidioten) dazu veranlasst hat, der Autorin Misandrie vorzuwerfen - Was wirklich schreiender Blödsinn ist!

    Wenn Emelie Autumn darüber schreibt, warum sie bei ihrem nächtlichen Nachhauseweg immer mitten auf der Straße und nicht auf dem Bürgersteig geht, ist das wirklich erschreckend - Leider aber auch erschreckend einleuchtend. Zumal ihr die Statistiken bezüglich der Häufigkeit/Wahrscheinlichkeit von Verkehrsunfällen und Vergewaltigungen dabei auch noch Recht geben.

    Daneben thematisiert Autumn noch ihre bipolare Störung, ihre Abtreibung und vor allem ihre Ansichten zum Thema Selbstmord (Ein Akt der Selbstverteidigung!) - Und kritisiert wie die Gesellschaft und der psychiatrische Apparat damit umgeht: Statt für sie den benötigten Safe Space zu schaffen, wird sie nach ihrer Einweisung einfach in eine Schublade gesteckt und größtenteils nur noch sich selbst überlassen bzw. verwahrt.


    Die autobiographischen Abschnitte des Buches sind wirklich großartig, die Hauptrolle spielt hier aber sicher der fiktionale Part (wobei man in diesem Buch Fiktion und Wirklichkeit nicht so einfach voneinander trennen kann und beide Welten im Verlauf der Handlung auch immer mehr miteinander verschmelzen.)

    Dort geht es um Emily mit y, die nach einem Selbstmordversuch ebenfalls in der Psychiatrie landet – Allerdings circa 150 Jahre vor Emilie mit ie. Die titelgebende Anstalt ist ein Ort des absoluten Grauens, an dem die jungen Frauen systematisch misshandelt und gebrochen werden. Stellenweise ist das wirklich harter Tobak, gegen den selbst "Martyrs" wie ein Kinderfilm wirkt - Dabei aber alles andere als selbstzweckhaft oder übertrieben. Quasi ein Best-/Worst-of der Behandlungsmethoden, die damals eben tatsächlich gängige Praxis waren: Missbrauch, Folter, Lobotomie, unfreiwillige Hysterektomie, Hydrotherapie usw.

    Trotz der schweren Themen gibt es aber auch immer mal wieder eine Prise Humor, die das Ganze dann etwas erträglicher macht. Zumindest in der ersten Hälfte. Danach wird der Roman jedoch endgültig zu einem verstörenden, intensiven und auch absolut hoffnungslosen Alptraumtrip. Falls das bis jetzt noch nicht deutlich wurde: "Die Anstalt" ist wirklich ein sehr, sehr, sehr düsteres Buch. Aber auch ein absolut großartiges!


    Es gibt jedoch auch ein paar Dinge, die mir weniger gefallen haben: Die Mary Sue-haftigkeit von Emily hat Katla hier ja schon erwähnt. Ich würde ihr da definitiv zustimmen, bin aber ebenfalls der Meinung, dass dies eine bewusste Entscheidung der Autorin war: Emily erträgt und bewältigt, was Emelie nicht ertragen und bewältigen kann - Sie ist gleichzeitig Wahn- und Wunschvorstellung - Eine Art Selbsttherapie. Eigentlich die einzige Form von Therapie die ihr in der Anstalt wiederfährt.

    Der Roman besitzt aber auch ein paar tatsächliche Schwächen, die man nicht so leicht wegdiskutieren kann: Der größte Schwachpunkt ist sicher der Antagonist und Anstaltsleiter Dr. Stockhill, der gegen Ende immer mehr zum völlig überzeichneten Oberbösewicht mutiert, der die totale Weltherrschaft anstrebt. Den Pest-Plot hätte ich definitiv nicht gebraucht. Er will in seiner Comichaftigkeit mMn auch einfach nicht zum Rest des Romans passen.

    Generell wird es im letzten Drittel etwas schwächer. Emelie Autumn trägt hier stellenwiese etwas zu dick auf und vieles wirkt zurechtgebogen (Plötzlicher Verrat + Deus Ex Machina). Auch wenn mir das eigentliche Finale, sowohl bei Emelie als auch bei Emily, dann wieder außerordentlich gut gefallen hat. (Ersteres erinnert übrigens dezent an "Die Gelbe Tapete" von Charlotte Perkins. Auch weil dort eine Tapete eine wichtige Rolle spielt.)

    Was den "Anhang" bzw. die konfiszierten Notizbücher angeht, hätte ich es jedoch deutlich besser gefunden, wenn man diese Kapitel (die gerade, wenn Emelie über die Gründe für ihr selbstverletzendes Verhalten schreibt, wirklich lesenswert sind) einfach in die eigentliche Handlung integriert hätte - So verwässern sie nämlich etwas das gelungene Ende.


    Die angesprochenen Kritikpunkt fallen aber alle unter "Meckern auf hohem Niveau", denn der Rest ist so gut, dass man die paar Schwächen locker verzeihen kann. "Die Anstalt für ungehorsame viktorianische Mädchen" mag vielleicht nicht perfekt sein, aber der Roman ist definitiv ein Erlebnis. Ein Erlebnis, das man nach der Lektüre sicher so schnell nicht wieder vergessen wird. Wirklich schade, dass Emelie Autumn danach nichts mehr geschrieben hat.