Juri Andruchowytsch: Moscoviada

  • Moscoviada

    Juri Andruchowytsch

    Broschur, 223 Seiten

    978-3-518-46312-3


    Klappentext:

    Moskau, Anfang der 90er Jahre. Im Wohnheim des Gorki-Instituts hocken die poetischen Hoffnungen aus der sowjetischen Provinz aufeinander. Das Imperium zerfällt, die Stimmung ist gereizt, der Wodka knapp. Otto von F., Student aus der Westukraine, will im Kaufhaus „Kinderwelt” Geschenke besorgen, findet nicht mehr heraus und gerät in die Gewalt von Geheimdienstbeamten, die in den Katakomben unter dem Kreml ein Rattenheer züchten.

    Moscoviada, Juri Andruchowytschs erfolgreichster, in viele Sprachen übersetzter Roman, ist von ungebrochener Aktualität. Das neoautoritäre Rußland, der eifernde Nationalismus, die Verklärung der kommunistischen Epoche, der chauvinistische Kitsch, der ideologische Druck – all diese Gespenster werden in einem karnevalesken Spektakel unter panischem Gelächter zum Teufel gejagt.


    Verlagslink: https://www.suhrkamp.de/buch/j…oscoviada-t-9783518463123


    Mit Beginn des Krieges in der Ukraine habe ich bewusst nach ukrainischen Autor:innen Ausschau gehalten und bin dabei auf Juri Andruchowytsch gestoßen, der mir zuvor unbekannt war. Andruchowytsch hat in der Phase des Zusammenbruchs der UdSSR in Moskau gelebt, um dort das literarische Schreiben zu lernen, und genau in dieser Situation befindet sich auch die Hauptfigur des Romans: Ein Anfang der 90er Jahre in Moskau lebender urkainischer Autor, der, statt zu schreiben, allerdings zu stark dem Alkohol zugetan ist und längst von ihm kontrolliert wird. Erzählt ist der Roman ebenso fahrig wie seine Haupfigur. In den besten Momenten wirkt er fokussiert, klug, witzig, voller Anspielungen, einfach rauschhaft. In anderen erscheint er ziellos und verliert sich in verkaterter Assoziation. Vermutlich habe ich dabei vieles überlesen, was Menschen, die diese Zeit des Umbruchs an diesem Ort miterlebt haben, vermutlich sofort erkennen werden.

    Der Klappentext verspricht einen phantastischen Roman oder zumindest einen Roman mit phantastischen Elementen. Diese finden sich ohne Frage: Tote, die wiederkehen, Monsterratten, Zeitsprünge, Höllentribunale. Sie gehen aber beinahe unter in der Absurdität einer tatsächlich untergehenden, bröckelnden Weltmacht. Hier steht der Roman fest in der Tradition Gogols und Bulgakows. Die geschilderte Welt und die Ereignisse steigern sich etwa ab der Hälfte des Romans zunehmend in eine Groteske herein, und es scheint, als würde die Hauptfigur Dantes Weg in die Hölle folgen, mit den großen Unterschieden, das die Hölle erkennbar unter Moskau liegt, die Hauptfigur nicht einen Höllen-Kreis nach dem anderen betritt, sondern sich regelrechte Höllen-Schichten antrinkt, und es mit zunehmender Tiefe immer deutlicher wird, dass es weniger der Mensch ist, der vor Gericht steht, als die UdSSR selbst. Am schauerlichsten ist der Roman dann, wenn er deutliche Parallelen zur heutigen Gegenwart erkennen lässt, so als sei die Geschichte Russlands in ihn schon hineingeschrieben. Als ich z.B. lesen musste, wie in einem Hölleintribunal über das sowjetische Imperium folgender Satz fiel, lief es mir doch kalt den Rücken herunter:


    "Die Idee der, pfui, Unabhängigkeit erleidet eine globale Niederlage und wird im Bewußtsein der Menschen gleichgesetzt mit Nationalsozialismus oder sogar mit sexueller Perversion." (S. 201)


    Der Roman ist von 1993. Aber wie lässt sich dabei nicht an Putin denken?

    Erschreckend.

    Ein definitiv lohnenswerter Roman mit einer erstaunlich unsympathischen, durch Alkhohlkonsum unfokussierten Hauptfigur. So etwas muss man lesen wollen wollen.