Antoine Volodine: Radiant Terminus
Open Letter Press / University of Rochester, NY, 2017
Übersetzung: Jeffery Zuckerman (es gibt noch keine ins Deutsche)
Original: Terminus radieux (2014)
49 Kapitel | 468 Seiten
Zusammen mit We Monks & Soldiers bislang das Buch, das am stärksten erzählerisch wirkt (im Gegensatz zu einer Prosa-Collage oder einer Komposition) und auch mit vielen Verwirbelungen, Spiegelungen und Sphärensprüngen das vielleicht "gradlinigste". (Die Anführungsstriche benötigt es trotzdem.) Wie bei anderen Büchern des Autors lässt sich die Szenenabfolge und Motivwahl am ehesten mit einem Kaleidoskop vergleichen, das einem immer anders-ähnliche Muster bietet, wenn man es dreht.
Nicht alle seine Bücher mag ich gleichermassen - Draegers Wiederholungen und einfache Satzstruktur gefallen mir weniger, und die stärker ausgesprochen politischen Essayprosastücke finde ich manchmal zu nah an historischen (und zweifelhaften) Ideologien bzw. Parolen, auch wenn die Ausrichtung natürlich links und nicht rechts ist.
Radiant Terminus aber ist imA ein schlichtweg perfekter Roman - auf das letzte Kapitel hätte ich verzichten können, vermute aber, es ist seiner Vorliebe für die Zahl 49 geschuldet; so wie auch 49 post-exotische Werke geplant sind.
Die Geschichte wirkt zum einen wie eine historische Erzählung (die GULAGs, Gefangenentransporte in die Lager, alte Waffen, der havarierte Reaktor von Chornobyl ... in übrigens einer seltenen realen Verortung), dann wie eine Dystopie, eine postapokalyptisch-philosophische Geister- bzw. Zombiegeschichte und schließlich aus dem Raumzeitgefüge nahezu losgelöstes Paralleluniversum bzw. Totenreich, das sich gegen Ende in wenigen Momenten bis zu 80.000 Jahre in die Zukunft erstreckt: in eine menschenlose, nahezu lichtlose und leblose Zukunft.
Zwischendurch stellt man fest, dass nicht der Erzähler erzählt, dem man die auktoriale oder auch mal 1. Person zugeordnet hatte. Möglicherweise entpuppt sich alles als die Niederschrift bzw. dann der Gesang einer am Ende isolierten Nebenfigur, die andere Protagonisten mit ihrer plötzlich dominanten Stimme verdrängt. Dann übernimmt wieder eine Erzählstimme, die eigentlich außerhalb der Geschichte beim Autor selbst zu verorten sein müsste. Man verliert beim Lesen die Bodenhaftung, und dennoch schafft die Erzählweise und der subtile Fokuswechsel überhaupt keine Verwirrung, sondern legt nur Schicht auf Schicht, lässt sich die Geschichte wie in Spiralbewegungen voranbewegen.
Durch die existenziellen Themen (Altern / Unsterblichkeit, Unterdrückung / Freiheit, Gewalt / Kapitulation, Zerstörung der Welt ...) und die starken, teils aus Märchen, Sagen und traditonellen sibirischen Kulturen übernommenen Figuren und Symboliken - z.B. Baba Jaga und der Unsterbliche Koschei - habe ich extrem stark den Eindruck einer Saga bekommen.
Wenn man Die Nibelungen als einen idealen und auch tragischen Spiegel der mittelalterlichen Gesellschaft nimmt, und die Kalevala als die Festschreibung einer nationalen Identität im frühen 19. Jahrhundert, dann ist für mich Radiant Terminus der Mythos oder die Saga unserer Epoche zwischen 1914 bis einige Hundert Jahre in die Zukunft gesehen.
Ein Werk, das gleichzeitig monumental wie auch untertrieben daherkommt, keine großen Gesten benötigt, um Wucht zu entfalten.
Ich gebe zu, das klingt alles sehr abstrakt. Ein augenscheinlich dominanter Plot dreht sich um den (vermeintlichen) Protagonisten, Kronauer - eine männliche Variante von Volodines Heteronym "Elli Kronauer". Er ist ein ehemaliger Soldat und kommt auf der Suche nach einem Lager, das ihn aufnehmen würde, in die Kolchose Radiant Terminus, auch Red Star Kolchose genannt. Der tyrannische, gewalttätige Schamanen-Poet Solovyej (der Name möglicherweise ein Mix aus Koschei und Solovetsky, einem GULAG) ist ihr Präsident. Wie seine Partnerin, die 150-jährige Liquidatorin Gramma Udgul ( = Baba Jaga, deren Name an Gran'ma und Gammastrahlung erinnert) ist er unsterblich. Seine drei Töchter bezeichnet er öfter als seine Ehefrauen oder Schwestern und wandert ungebeten in ihren Träumen herum. Die Gramma Udgul hingegen kommuniziert mit dem geschmolzenen Kern des havarierten Chornobyl-Reaktors, der sich zwei Kilometer tief in die Erde gefressen hat. Sie füttert ihn mit verstrahlten Gerätschaften, Leichen und Kadavern.
Aus dieser Ausgangslage entwickeln sich Tragödien und Konflikte, die sich in Gewalt, Mord, Isolation und Verrat entladen - ohne aber letztlich irgendetwas zu beeinflussen oder zu verbessern.
Daneben gibt es eine Reihe Soldaten, Gefangene, Lagerpersonal, Eisenbahnführer, Kolchosenarbeiter und Vogelmenschen wie auch riesigen mystischen Rabenvögeln, die eine gottartige Rolle einnehmen. Sämtliches Personal ist entweder unsterblich oder untot, die Schauplätze sind verschiedene Sphären des Bardo, der Totenwelt, aus der es aber kein Entrinnen durch Wiedergeburt geben wird. Zeit wird immer stärker verzerrt und schließlich ganz aufgehoben; im gleichen Maß verlieren die Figuren - auch die Erzähler - immer mehr das Gedächtnis, die Identität und auch die Sprachfähigkeit.
Ich habe - nach der Pubertät mit all den Entdeckungen der Phantastik - sehr selten ein Buch gelesen, das mich so stark beschäftigt wie auch ungeheuer fasziniert. Und selten eines, das einen so ungeheuren Reichtum an Phantasie, Vision und gleichzeitig Nihilismus zeigt.
Außerdem mal ein Buch von Volodine, das mir 200 Seiten zu kurz anstatt zu lang war. Ganz unbedingte Empfehlung!