Phantastik in Russland – Symbolismus und 20. Jahrhundert

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    Intro

    Ein Schnellkurs, beschränkt auf einige Highlights, was bekannt und greifbar war, keine Lehrbuchmeinung, herausgegriffen aus der eigenen Bibliothek, basierend auf persönlichen Leseerfahrungen … please remember.


    Russland und Europa

    Die Chronik der jüngeren russischen Literaturgeschichte setzt vergleichsweise spät an. Nämlich erst im 18. Jahrhundert. Einen entscheidenden Impuls vermittelte die Regierungszeit des Zaren Peter des Großen (1672 – 1725), seine Alleinherrschaft begann 1689. Nicht wie heute Moskau, sondern das weiter westlich gelegene Petersburg bildete das politische und kulturelle Zentrum des Reichs. Auf die nachfolgende russische Literatur wirkten Vorbilder aus Deutschland und Frankreich, – von den sonstigen Wechselwirkungen ganz abgesehen. Stellvertretend für den deutschen Part sei lediglich genannt: Katharina die Große (1729 – 1796), geborene Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst. Wie dann im Detail Europa nach Russland kam und umgekehrt: das würde an dieser Stelle zu weit führen. Genug, dass sich die erwähnten Wechselwirkungen politisch, geographisch und kulturell auf lange Sicht nicht von der Hand weisen lassen.

    Symbolismus

    Als Ursprungsland des Symbolismus gilt Frankreich. Von hier aus wirkte, einmal mehr, der Einfluss auf das künstlerische Russland gegen Ende des 19. Jahrhunderts: „Das Vergleiten von Traum und Realität, das Verschmelzen von Klang und Farbe, das Unwirkliche in der Wirklichkeit waren Kennzeichnung dieser neuen Dichtung.“ (Johannes von Guenther). Bedeutsame französische Namen sind: Paul Verlaine, Stéphane Mallarmé oder Émile Verhaeren.

    Neue russische Erzähler/Meistererzählungen des russischen Symbolismus

    Ein Wegbereiter des russischen Symbolismus war der Petersburger Dichter Dmitri Sergejewitsch Mereschkowski (1866 – 1941), der 1919 mit seiner Gattin nach Paris emigrierte. Von ihr – Sinaida Nikolajewna Hippius (1869 – 1945) – war bereits hier im Forum die Rede. Ihre phantastische Geschichte „Das zweite Leben“ ist enthalten in dem Band: Neue russische Erzähler (1920). Darin geht es um die Malerin Yvonne de Susor, die sich von einem Wahrsager ihre komplette Zukunft voraussagen lässt. Äußerlich eine Schönheit, erregt ein Blick in ihre Augen Grauen und Widerwillen. Denn das fatale Wissen um die Zukunft – und den Tod – ist ihr unauslöschlich in Herz und Antlitz geschrieben … Der von Alexander Eliasberg edierte Sammelband wurde 1964 noch einmal veröffentlicht im Goldmann Verlag als: Meistererzählungen des russischen Symbolismus.


    Alexander Eliasberg (1878 – 1924), in Minsk geboren, in München gestorben, hat (nicht nur) mit der Herausgabe dieser Anthologie sicherlich einen wichtigen Schritt zur russisch-deutschen Literaturvermittlung gemacht. Er widmete das Buch Thomas Mann („in tiefer Verehrung“); auf Wikipedia lesen wir zudem, dass er Mann mit „russischen Romanen bekannt“ gemacht habe.


    Wen finden wir noch in der Sammlung? Zum Beispiel Konstantin Dmitrijewitsch Balmont (1867 – 1942) mit „Der Weg durch die Luft“. Es ist dies die Lebensgeschichte eines verzweifelten jungen Mannes, der sich in suizidaler Absicht aus dem Fenster stürzt. Er überlebt schwerverletzt. Die Zeit der Rekonvaleszenz beschert ihm grässliche Alpträume, etwa: Aus einer Blutlache im Hof erhebt sich ein Kopf – eine Kaulquappe mit dem Gesicht eines Säuglings. Das Wesen wächst empor und schaut durchs Fenster in sein Zimmer hinein … Die surreale Story behandelt auf bedrückende Art Themen wie Einsamkeit, Selbstmord, Träume, Schmerz und Erlösung. Zu Balmont lässt sich noch sagen, dass er „Freund und Feind“ (Johannes Guenther) von Brussjow war. Auch dieser – Waleri Jakowlewitsch Brjussow (1872 – 1942) – ist in Neue russische Erzähler enthalten. Doch dazu mehr im nachfolgenden Beitrag.

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    Brjussow und Ssologub

    An diesen beiden Namen ist kein Vorbeikommen, wenn es um die Phantastik der symbolistischen Ära Russlands geht. Die hier abgebildete Novelle Brjussows Letzte Seiten aus dem Tagebuch einer Frau erschien 1911 im Freiburger Verlag Friedrich Ernst Fehsenfeld, welcher sich vor allem als Herausgeber der Werke Karl Mays einen Namen machte. Es handelt sich um das psychologisch enervierende Dokument eines Mords. Im Anhang enthalten ist eine Art Skizze, ein kurzer fieberhafter Text namens „Der Tod“ von B. Saizeff (Boris Saizew/Sạjzew, 1881 – 1972). Bemerkenswert ist, dass Fehsenfeld hiermit eine neue Reihe starten wollte: „Moderne Russen. Band 1“. Dabei blieb es jedoch, mehr Titel sind nicht erschienen … Ein verbreiteter Erzählband Brjussows ist Die Republik des Südkreuzes (EA 1905, hier in einer Ausgabe der Phantastischen Bibliothek Suhrkamp), in der Titelgeschichte wird eine Utopie beschrieben, die „an Mordlust und sexueller Gier zugrunde“ geht (Frank Rainer Scheck). Über den von Scheck in DuMont’s Bibliothek des Phantastischen aufgenommenen historischen Roman Der feurige Engel (EA 1907/1908) schreibt Johannes Guenther: „Die ganze magische Besessenheit des Mittelalters steht hier in wunderbar düster glühenden Farben auf.“



    Der fast ein Dezennium ältere Fjodor Sologub (Ssologub/Sollogub, 1863 – 1927) wird von Johannes Guenther als „Sänger des Todes“ bezeichnet. Natürlich tummelt auch er sich unter den Neuen russischen Erzählern; die kindliche Angstzustände thematisierende Story „Schatten“ hatte Alexander Eliasberg schon für die Sammlung Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen (1918) übersetzt. Als ein Hauptwerk des russischen Symbolismus kürt das Lexikon der Phantastischen Literatur den auf Deutsch in 2 Bänden erschienenen Roman Totenzauber. Eine Legende im Werden (1913): ein fabelhaftes Werk, das ich in bester Erinnerung (aber, da es ein Leihexemplar war, nicht ausgelesen) habe … Abschließend will ich noch einen obskuren Gedichtband erwähnen, den ich 2013 auf der (nicht mehr existenten) Dortmunder Science Fiction-Convention (DortCon) erwarb: Fjodor Sologub. Gedichte, übertragen von Arjuno Gramich, erschienen im Toyberg Verlag – und zwar als zweisprachige Ausgabe. Die Titel der Gedichte sprechen für sich: „Schlaf“, „Die Satansschaukel“, „Asteroid“, „An den Tod“ usw.


    Outro

    Fehsenfelds projektierte Reihe „Moderne Russen“ (1911) und die von Alexander Eliasberg edierte Sammlung Neue russische Erzähler (1920) zeigen: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte im deutschsprachigen Raum durchaus Interesse an der aktuellen russischen Literatur. Eine wichtige Rolle spielte auch der in Mitau/Kurland geborene und mehrfach zitierte Johannes von Guenther (1886 – 1973). Dessen Anthologie Russische Gespenstergeschichten (bis auf Brjussows Beitrag jedoch aufs 19. Jahrhundert beschränkt) erschien erstmals 1921 und dann wiederholt, bis in die 1970er Jahre, bei Fischer als Taschenbuch. Für meinen schnellen Überblick leistete mir sein Buch Von Rußland will ich erzählen. Der dramatische Lebenslauf der russischen Literatur (1968) gute Dienste. Zu Brjussow siehe auch die Nachworte in: Die Republik des Südkreuzes (von Klaus Städtke) und in: Der feurige Engel (von Frank Rainer Scheck).

  • Ich möchte ein neues Gesicht der russischen Literatur vorstellen:



    Keler (Keller) Wladimir Konstantinovitsch (1856-1919) war russischer Unternehmer und Schriftsteller adliger Abstammung.



    Bis vor kurzem gab es kaum Informationen von diesem Mann. Erst 2015 konnte ein Amateur-Bibliograf die Identität des Schriftstellers feststellen.


    W.Keller saß im Vorstand einer Privatbank und war ein Vorstandsmitglied von zahlreichen industriellen Großfirmen.


    Er lebte in Sankt-Petersburg und auf der Halbinsel Krim.


    Seine schriftstellerische Kariere war nicht von langer Dauer (1911-1918). Er veröffentlichte seine Erzählungen in den Zeitschriften.


    1914 erschien seine erste Erzhlungssammlung «Das Isis-Armband», 1916- die zweite Sammlung „Die Augen des Tieres“.




    Die Erzählungen von Keller kann man nicht unbedingt als innovativ bezeichnen. Sie haben sich vorwiegend mit Mystik beschäftigt.


    So in der langen Erzählung „Das Isis-Armband“ kaufte der Protagonist bei einem Antiquar ein egyptisches Armband. Seitdem besuchen ihn Visionen,die ihn gezwungen haben, nach Egypten zu reisen_um das Geheimnis zu enträtseln.


    In der Erzählung „Alptraum“ erwachen die Statuen mit sadistischen Neigungen zum Leben.


    In der Erzählung „Wie das neue Leben Grigori Wasiljewitsch getroffen hat“ kauft ein wohlhabender Doktor ein Gut und merkt später,dass etwas mit dem Haus nicht stimmt:sein Hund findet keine Ruhe und der Wind heult fast menschlich.



    W.Keler starb 1919 und liegt in Sankt-Petersburg begraben (Alexander-Newski-Friedhof) begraben.



    2015 erschien das schöne Buch „Die Geister von Venedig“ mit 20 Erzählungen von Keler im Verlag „Prestisch Buk“ mit schönen Jugendstil-Illustrationen von Lodigin (1898-1942). Das Buch vereinte fast alle Erzählungen vom Autor. In der Zwischenzeit wurden noch 5-6 Erzählungen entdeckt. Vor einigen Jahren wurde eine erweiterte Ausgabe angekündigt.








  • Illustrator Lodigin ist ziemlich bekannte Figur der Decadancezeit.Im Internet kann man einiges finden.

    Das Buch selber ist voll von schwarz-weißen Bildern und nur auf den Frontseiten farbig.

    Keller ist wahrscheinlich von deutscher Abstammung (keine Seltenheit im Zarenrussland).

    Die Bilder von Lodygin wurden natürlich nicht zu diesem Buch exklusiv gemacht. Das ist schon die Initiative von dem modernen Verleger.

    Das Titelbild zur Sammlung "Die Augen des Tieres" sind originell und noch in einer alten Orthografie gestaltet.

  • Deutsche Übersetzungen habe ich nicht gesehen. Wenn es überhaupt was vorhanden ist,liegt weit zurück.

    gibt es Erzählungen von Keller auch in deutscher Übersetzung?

    Als ich F.C.Oberg zum ersten mal auf deutsch gelesen habe,dachte ich "eine totale Seltenheit". Wie habe ich mich gewundert,als ein Bekannter aus Russland eine russische Übersetzung von " Der rote Marchese" aus einer Zeitschrift vor Oktoberrevulution präsentiert hat. Der erste Weltkrieg lief, deutsche Namen waren gelinde gesagt nicht populär und trotzdem wollten die Menschen lesen.

  • Ich schätze, die meisten genannten Werke sind nur noch antiquarisch zu beziehen.

    Nicht nur. Abgesehen von den PoD-Büchern, die auf den frei verfügbaren Texten im Netz basieren, gibt es noch einige richtige Verlagsveröffentlichungen.


    Ein wichtiger Name in unserem Zusammenhang ist der schon früh in Deutschland gewürdigte Leonid Nikolajewitsch Andrejew (1871 – 1919). Von ihm beispielsweise zu haben:

    • Matthes & Seitz Berlin: Die Mauer
      Verlagsinfo: „Die Mauer ist der literarische Bericht über den Ausbruch einer Seuche, deren Aussätzige nicht gerettet werden. Diese ewig gültige Parabel über das Ausgestoßensein hat heute mehr Gültigkeit denn je.“
    • Boer Verlag: Das rote Lachen
      Eine blutige Schreckensvision, die „einen russischen Krieger auf dem mandschurischen Felde erfaßt hat. Langsam ergreift ihn der rote Wahnsinn; er sieht nur noch ein verzerrtes Wahnsinnslachen, strömendes Blut, seit einem lachenden Menschen die feindliche Kugel das Gesicht zu grausigem Lachen verzerrte.“ (René Schickele in: Führer durch die moderne Literatur, 1910)

    Der genannte Alexander Grin (1880 – 1932) wird noch im Unionsverlag gepflegt mit seiner Novelle „Purpursegel“. Das Nachwort dazu, von Leonhard Kossuth, hat der Verlag freundlicherweise auf der Autorenseite zum Download bereitgestellt.

  • Wow, was für Schätze!


    Arkham Insider Axel Ach ja, den feurigen Engel hatte ich auch angefangen, irgendwie hat mich das nicht gepackt. Dabei hab ich die Oper rauf und runter gehört, obwohl ich gar kein Opernfan bin.


    Strach Tolle Bücher, wirklich. Das eine könnte direkt vom gleichen Künstler sein, wie das Cover dieses Grabinski-Originals (Das Buch des Feuers), vielleicht mal als eine Serie gemalt. Ich kann nicht nachschauen, das Buch hab ich leider nicht:

  • Der genannte Alexander Grin (1880 – 1932) wird noch im Unionsverlag gepflegt mit seiner Novelle „Purpursegel“. Das Nachwort dazu, von Leonhard Kossuth, hat der Verlag freundlicherweise auf der Autorenseite zum Download bereitgestellt.

    Zu Alexander Grin gibt es ja in eurem Forum schon einen ganz schönen Artikel hier.

    Im Zuge der Erstellung von "Bibliographie und Index der Sekundärliteratur in der Phantas-

    tischen Bibliothek Suhrkamp" (Download hier) ist mir auch das Vorwort in die Hände gefallen.

    Sollte also jemand Wert auf das Vorwort - Alexander Grin und sein Schaffen - legen, welches Leonid Borissow geschrieben hat, so kann ich es beibringen (PN genügt).

  • Ich verstehe,dass es wenig für das deutschsprachige Forum bringt unt trotzdem. Das Buch kann man übrigens kostenlos runterladen .

    Die A.Grin-Biografie in der Reihe "Das Leben der bemerkenswerten Menschen" (Autor :Warlamow): 464 Seiten