C. S. Friedman: This Virtual Night

  • C. S. Friedman: This Virtual Night

    DAW Books Inc, New York 2021

    448 Seiten

    Zweiter Band der Outworlds-Reihe


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    Gothic Horror / Klassische Gespenstergeschichten und SF machen den größten Anteil meiner Phantastiklektüre aus, und gerade bei SF kehre ich immer wieder zu alten Bekannten oder - auch hier - Klassikern zurück, weil mich einfach viele aktuelle Veröffentlichungen ziemlich nerven. Entweder alles klingt wie die Nacherzählung eines Blockbusters, menschelt zu sehr oder der Hauptgrund: aktuelle Konflikte sind einfach in ein Space-Setting versetzt, aber es gibt keine tatsächlichen SF-Konflikte, die auch tatsächlich mit den zukünftigen / außerirdischen Gegebenheiten zusammenhängen.


    Dieses Buch entdeckte ich beim Stöbern im absolut riesigen Stockholmer SF-Bookshop, las es an und kaufte es jetzt. Friedman war mir unbekannt, mir gefiel einfach das Cover und der Titel. Und ich bin wirklich begeistert.


    This Virtual Night ist wohl der Folgeband zu This Alien Shore, das ich (noch) nicht kenne, und lässt sich auch ohne Vorwissen lesen. Setting: Die Menschen haben andere Welten kolonisiert, einige davon erfolgreich, andere gingen den Bach runter oder wurden ganz aufgegeben (wie ja wirklich häufig passiert, z.B. die Viking-Siedlungen auf Grönland).


    Durch die ungeheueren Entfernungen und - eines der Hauptmotive des Bandes - auch Mutationen, verbreiterte sich der Graben zwischen Menschen und ihren Varianten immer mehr. Einigen Kolonisten war es entweder unmöglich oder untersagt, menschliche Welten zu betreten. Sollte innerhalb langer Zeitspannen (mehrere Generationen) herausgefunden werden, ob die Kolonisten einer Welt überhaupt noch existieren bzw. eher: gibt es dort Rohmaterial zu bergen, werden sog. Outriders in Zweierteams auf diese Welten gesendet. Was sie meist antreffen, sind Wilde, deren Zivilisationen längst zusammengebrochen sind, oder verlassene Systeme.


    In diesem Buch treffen - erst durch parallele / getrennte Stränge erzählt - die Outriderin Ru und der Virtual-Games Designer Micah auf einer angeblich verlassenen Raumstation zusammen. Beide sind humaniode 'Varianten', beide stehen den Machthabern - keine politischen Staaten, sondern universal Corporations - feindselig gegenüber, auch wenn sie manchmal offizielle Aufträge übernehmen. Die beiden Erzählstränge werden sehr geschickt verknüpft, es gibt Spannung, Action (sinnvoll, nicht hirnlos), sehr gute, schnittige Dialoge und wunderbare Beschreibungen. Friedman labert nie rum, ergeht sich nie in Beschreibungen um ihrer selbst willen und hat seine Geschichte wirklich voll im Griff.


    Die ersten zwei Drittel des Buches gefallen mir mit Abstand am besten, da es um eine sehr begrenzte Anzahl Figuren geht und weil hier eben die Konflikte sehr SF-abhängig sind. Dann geht es verstärkt um zwischen-'menschliches': Fragen um Vertrauen und Freundschaft, Verrat und Enttäuschung. Ein Seitenfaden handelt von einer Yakuza-ähnlichen Organisation, den Machtkämpfen dort in einer Art Casinowelt, was alles aus Thrillern bekannt ist.


    Trotzdem kann das meiner Begeisterung wenig Abbruch tun. Die Figuren sind klasse, nicht nach pc:ness entworfen und doch gegen den Mainstream, sie sind glaubwürdig und intelligent. Ich merke mal wieder, dass mich eigentlich Szenen und Passagen am allermeisten faszinieren, in den gar keine Menschen vorkommen, sondern nur Maschinen, Raumschiffe oder Planeten / das All selbst. Ähnlich wie bei dem Intro zu Lems Der Unbesiegbare oder die düsteren Evakuierungsszenarien in Cixin Lius The Dark Forest. Oder auch: Erkundungsgänge durch verlassene Raumschiffe/-stationen, in denen etwas Unheimliches lauert - hier erinnerte mich Night angenehm an Alien oder auch den Anfang von Event Horizon.

    Vom Stil her knackig, unangestrengt poetisch und sehr im Fluß, irgendwo zwischen Liu, Reynolds und Gluchovsky (in seinen besten Momenten).


    Lieblingsstelle:

    Zitat

    THE AINNIQ was eerily beautiful. A sliver of space that did not look like space, alive with shadows the mind could not identify. A flaw in a black jewel, catching the light unexpectedly—then disappearing from view as the angle changed, equally unexpectedly. Colors that had no name shimmered within its depths; shadows that required no light pulsed up and down its length. The universe had been fractured in its first nanoseconds of birth, space-time wounded beyond hope of healing, and the Guerans had learned to navigate those wounds as one might the rivers of a great world, or the veins of a body. Entering the ainniq, a ship might defy the usual limits of space and time; skipped along its edge at just the right angle, a signal might cross the galaxy in less than a lifetime.

    Traveling through the ainniq, one might also be devoured by the unique predators that called it home.


    Fazit: 9 von 10.

    Punktabzug für die wirklich massiv nervende Einsprengselung christlicher Ideen / Sprüche ("so es einen Gott gibt / ... will, he prayed that xy should happen etc."), und das, obwohl keine der Figuren tatsächlich gläubig ist. Diese Sätze katapultieren einen immer wieder aus der überzeugend gestalteten Zukunft heraus in die Historie/Jetztzeit, einfach vor der Kulisse extrem unglaubwürdig und noch anachronistischer als sie ohnehin schon wirken.


    Mir als autoführerscheinloser Niete in den Naturwissenschaften ist erstaunlicherweise ein faktischer Fehler aufgefallen, der die un/möglichen Flugmanöver von Raumschiffen betrifft: eine Art Kurvenschlagen nur durch Steuerung, im Englischen 'banking', was aber ungeachtet dessen in den meisten Raumschlacht-Szenen in Filmen ebenso verwendet wird. Phil Plait hat das mal in seinem Bad Astronomy Blog & Buch aufgedröselt, warum das im Vakuum / ohne Reibung nicht ohne massiven Einsatz des Antriebs geht und dann auch nicht so zackig.