Alexander Pechmanns zweiter Roman Die Nebelkrähe, erschienen 2019 im Göttinger Steidl Verlag. Das Buch gibt es mittlerweile auch als günstigere Pocket-Variante und als Lesung.
Erzählt wird die Romanhandlung von Peter Vane, einem Mathematikstudenten, der im London der frühen 1920er Jahre mit seinen traumatischen Weltkriegserfahrungen zu ringen hat. Besonders zu schaffen macht ihm der Verlust seines besten Kameraden, der mit einer Schussverletzung ins Lazarett gekommen und von dort nie zurückgekehrt war, obgleich keine Hinweise auf sein Versterben vorgelegen hatten. Der Ire Finley, ein begabter Geschichtenerzähler und für Vane ein guter Freund, scheint auf unerklärliche Weise verschwunden zu sein.
Zitat von Alexander PechmannMeine Großeltern, bei denen ich aufgewachsen war, hatten darauf geachtet, dass ich meine Zeit nicht mit Romanen und Gedichten verplemperte. Sie [...] beschützten mich vor dem schädlichen Einfluss von H. G. Wells, Henry Rider Haggard und Arthur Conan Doyle, da sie fürchteten, ich könnte nach meiner armen Mutter geraten und in der Halbwelt der Londoner Künstler und Schauspieler zugrunde gehen. So lernte ich all die herrlichen Abenteuergeschichten erst dank Finley kennen [...].
Vane promoviert über Riemanns Differentialgeometrie und hat somit nicht eben wenig Arbeit vor sich, aber der Verlust seines Kameraden und die Gräuel der Schützengräben setzen ihm allzu sehr zu. Außerdem hatte Finley ihm kurz vor seinem seltsamen Verschwinden eine alte Kinder-Daguerreotypie zugesteckt, über deren Motiv und Herkunft Vane ununterbrochen rätselt. Tatsächlich hat er den Eindruck, vom Geist seines mutmaßlichen toten Kameraden verfolgt zu werden. Ob die spiritistische Vereinigung Lichts ins Dunkel zu bringen vermag, zu deren Besuch ein Kommilitone ihm rät?
Zitat von Alexander PechmannFinley hatte eine gewisse Vorliebe für Schatzsucher und Seefahrer, doch König Salomons Schatzkammern waren ihm ebenso vertraut wie die nächtlichen Gassen der Großstadt, in denen ein brutaler Mörder namens Mr. Hyde sein Unwesen trieb, oder die vornehmen, von tausend Kerzen erhellten Salons, in denen Dorian Gray mit unschuldigen Debütantinnen flirtete. Natürlich mochte er auch verwickelte Kriminalfälle [...].
Einen verwickelten Fall präsentiert Pechmann hier, der in unterschiedliche Londoner Halbwelten führt. Vane folgt dem weißen Kaninchen in spiritistische Zirkel und in distinguierte Herrensalons, in schummerige Chinesenkneipen und glitzernde Theatersäle, aber auch in staubigen Antiquariaten und offiziellen Archiven sucht er nach losen Fäden und heißen Spuren. Geleitet wird der intellektuell unsichere und sozial etwas beschränkte PhD in spe von Dolly Wilde, einer Nichte Oscar Wildes. Vane ist von der meinungsstarken, emanzipierten Dame gleichsam fasziniert wie eingeschüchtert. War sie es nicht gewesen, die damals in Frankreich den Krankenwagen mit Finley darin gelenkt hatte?
ZitatWir gingen eine breite, geschwungene Treppe hinauf, einen Korridor entlang und betraten dann ein bequem eingerichtetes Zimmer mit lederbezogenen Stühlen, die um einen niedrigen Abstelltisch standen. An den scharlachrot tapezierten Wänden hingen gerahmte Porträts verstorbener Clubmitglieder. [...] Kurz darauf erschien Algernon Blackwood und gab uns mit einem jugendlich schüchternen Lächeln die Hand.
Ein verwickelter Fall ist dies Buch. Geschrieben von einem zweifellos kundigen Autor, bleibt es trotz einiger Stärken insgesamt hinter den Erwartungen zurück. Pechmann kennt seine Materie, ist in literarischen Höhen und Tiefen des viktorianischen wie edwardianischen Englands bestens bewandert und weiß eine Menge historischer Details einzuflechten. Allein, es fehlt die sprachliche Finesse, um das in einzelnen Kapiteln da und dort schimmernde Zeitkolorit artistisch zu einem stimmigen Ganzen zu verbinden und so dem ja nicht ungefälligen Gemälde lebendige Farbe einzuhauchen. Das London der damaligen Zeit wird als vielfacher Handlungsort genutzt, aber es will nicht recht zum Leben erwachen. Viele literarische Referenzen wirken nicht wie organisch aus dem Stoff gewachsen, sondern wie durch einen belesenen Übersetzer und Herausgeber pflichtschuldigst aufgelistet. So manche Station der Handlung ist zu vorhersehbar gewählt, Beschreibungen verfehlen immer wieder knapp ihre Wirkung, und auch das grundlegende Mysterium des Romans - ein Spiel mit den Konzepten der Realität und des Jenseits, ausgebreitet vor dem Hintergrund einer Szene von Geistersehern und Poltergeist-Statistikern, dabei verwoben mit einer nachweislich passierten Gegebenheit um den toten Oscar Wilde - will und will sich nicht recht zur griffigen Spannung einer guten Sherlock-Holmes-Geschichte aufschwingen. Was bleibt, ist eine etwas trockene Mixtur aus historischer Erzählung und Kriminalgroteske, die zwar für sich gesehen nur mittelmäßig unterhält, jedoch in einigen Momenten so stark für ihren Stoff wirbt, dass die Lust auf einschlägige Lektüren zum dunkel-herbstlichen Jahresausklang durchaus gesteigert werden konnte.