Otto Pietsch – Das Gewissen der Welt

  • Otto Pietsch: Das Gewissen der Welt

    J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger. Stuttgart, Berlin 1915

    Antiquarisch erhältlich



    Diesen Roman habe ich vor einigen Jahren von einem Phantastik-Sammler erworben. In der Rezeption wird teilweise ebenfalls erwähnt, das Buch sei phantastischen Inhalts. Allerdings fällt mir die Einordnung – nach der jetzt endlich erfolgten Lektüre – nicht ganz leicht. Hat vielleicht jemand das Buch gelesen und/oder kann noch mehr zu Werk und Autor sagen?


    Eine kurze Zusammenfassung

    „Das Gewissen der Welt“ erzählt die Lebensgeschichte Theodor Mertens, der in den 1840er-Jahren als Findelkind (die unbekannte Mutter kann ihn gerade noch gebären, bevor sie stirbt) auf ein ostpreußisches Gut kommt und dort in der Obhut des naiv-frommen Gärtners aufwächst. Schon früh macht der Knabe Erfahrungen mit Willkür und Machtmissbrauch. Im Lauf seiner Jugend entwickelt Merten einen starken Gerechtigkeitssinn. Darüber wird er fast zum Mörder an dem jungen, gewissenlosen Gutsherren, der nicht davor zurückschreckt, aus Geldgier sein eigenes Kind zu töten. Merten verbüßt eine mehrjährig Gefängnisstrafe, nach deren Abbüßen er in die Vereinigten Staaten von Amerika auswandert.


    In den USA verdingt sich Merten im Eisenbahnbau. Hier muss er erleben, wie Raffgier und Skrupellosigkeit zu einem fürchterlichen Eisenbahnunglück führen: Anstatt eine marode Brücke für den Zugverkehr zu sperren, wird daran herumgepfuscht, bis das Bauwerk einem Zug nachgibt und die Wagen in die Tiefe stürzen. Merten verfasst über das Unglück einen Augenzeugenbericht für eine amerikanische Zeitung. Sein anklagender Text stößt auf ein breites Echo.


    Ab dann überschlagen sich die Ereignisse. Theodor Merten arbeitet sich empor, wird Lokführer und schließlich gutbezahlter Arbeiter in den Werkstätten einer Eisenbahngesellschaft. Als ein Streik unter den Eisenbahnern ausbricht, schwingt Merten sich zu ihrem Wortführer empor und kann durch sein geschicktes Handeln die Forderungen der Arbeiter durchsetzen. Seine Karriere bei der Eisenbahn ist damit zwar beendet, doch verschafft er sich nun als Journalist Gehör und wird endlich Besitzer einer großen Tageszeitung. Fortan setzt er sein Vermögen und seinen Einfluss den anmaßenden und kriegerischen Bestrebungen der internationalen Politik entgegen.


    Noch einige Hintergrundinformationen

    An einer Stelle heißt es: „Theodor Merten war das Gewissen der Welt geworden“. Tatsächlich handelt das Buch in erheblichen Teilen von weltgeschichtlichen Begebenheit wie dem zweiten Burenkrieg (1899 bis 1902), dem Russisch-Japanischen Krieg (1904 bis 1905) oder dem Untergang der Titanic (1912). Was uns die offiziellen Geschichtsbücher freilich verschweigen: Bei all diesen Ereignissen spielen Theodor Merten, seine Helfer und Helfershelfer eine nicht unwichtige Rolle und greifen aktiv ein. Merten betätigt sich als eine Art Übermensch und ist die unbestechliche moralische Instanz in einer Welt, die für ihre politischen und sozioökonomischen Interessen bereit ist, über Leichen zu gehen.


    Der Roman erschien erstmals 1915 und liegt mir in der 6. Auflage vor. Ein Beleg dafür, dass er sich zumindest eine Zeitlang einer gewissen Aufmerksamkeit erfreute. Es wäre spannend, mehr über die zeitgenössische Aufnahme zu erfahren, – immerhin schlägt der Autor Otto Pietsch unverkennbar pazifistische Töne an (findet aber gleichzeitig auch verständnisvolle Worte für den deutschen Militarismus). Bemerkenswert ist noch, dass Pietsch dem Antisemitismus nicht das Wort redet, sondern im Gegenteil einige sehr positiv gezeichnete jüdische Figuren auftreten lässt.


    Einordnung/Bewertung

    Unterm Strich erscheint „Das Gewissen der Welt“ als ein Buch mit hohem sozialen (sozialistischen?) Bewusstsein, das ich am ehesten dem Genre der Alternativweltgeschichte zuschreiben würde. Sicherlich haben wir es auch mit einem Entwicklungsroman zu tun.


    Wie ist das Buch geschrieben? Dialoge verwendet Pietsch äußerst sparsam und frönt stattdessen einem wortreichen, beschreibenden Stil, der angesichts der ökonomischen und politischen Inhalte für ein recht trockenes Lektüreerlebnis sorgt. Mich hat die Story aber ausreichend gefesselt, so dass ich bis zur letzten Seite durchgehalten habe. :thumbup:

  • Es war sein größter Erfolg und wurde auch verfilmt …

    Otto Pietsch in der WIKIPEDIA

  • Erstmal vielen Dank für die Vorstellung dieses mir bisher nicht bekannten Romans! Gerne mehr davon!

    Unterm Strich erscheint „Das Gewissen der Welt“ als ein Buch mit hohem sozialen (sozialistischen?) Bewusstsein, das ich am ehesten dem Genre der Alternativweltgeschichte zuschreiben würde. Sicherlich haben wir es auch mit einem Entwicklungsroman zu tun.

    Woran machst du fest, dass es sich um eine Alternativweltgeschichte handelt? Für mich scheint es eher so eine Art "Forrest Gump"-Urahn zu sein.

  • Der Theodor Merten aus dem Buch und Forrest Gump sind sicherlich beides Wunderkinder, dieser Vergleich ist nicht uninteressant.


    Ich tue mich ansonsten schwer mit der Einordnung. Alternativweltgeschichte deshalb, weil es (meines Wissens) kein ostreußisches Findelkind gegeben hat, das so weitreichend in die genannten weltgeschichtlichen Ereignisse eingegriffen hat. Ich weiß, dass das die Definition einer Alternativweltgeschichte nicht ganz trifft, weil diese ja von einem veränderten/alternativen Geschichtsablauf ausgeht … es ist ein sperriges Werk, schwer zu kategorisieren. Es freut mich aber, wenn ich Interesse für das Buch wecken konnte.

  • Hallo,

    bin neu hier und muss gleich widersprechen :(

    Hatte das Buch auch mal gekauft, weil es in der Bibliographie von Robert N. Bloch aufgeführt wurde. Nach gründlicher Lektüre ist es aber von meinem Phantastik-Regal wieder zurück ins "normale" Belletristik-Regal gewandert.

    In meinen Augen ist es keinesfalls phantastisch, in welchen Bereich der Phantastik man es auch stecken möchte.

    Das Argument, daß es kein Findelkind gegeben hat, auf das die dort geschilderte Biographie zutrifft, reicht nicht aus, um es als phantastisch einzuordnen.

    Für mich ist Theodor Merten die Symbolfigur für einen investigativen Journalisten, der mit seinen Artikeln gegen soziale Ungerechtigkeit, Korruption und Verbrechen kämpft. Klar ist sein Aufstieg vom kaum amerikanisch sprechenden armen Einwanderer zum Zeitungszar stellenweise kaum vorstellbar, aber wiederum auch nur eine Abart des amerikanischen Traums "vom Tellerwäscher zum Millionär".

    Der ganze Rest ist mehr oder weniger genaue Widerspiegelung der Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ich will hier nicht ins Detail gehen, führe also nur ein paar Punkte an, wie z.B. den großen Eisenbahnerstreik von 1877, den Grenzkonflikt zwischen Venezuela u. British Guyana, die Dreyfus-Affäre, der zweite Burenkrieg, der Russisch-Japanische Krieg und sogar der Untergang der Titanic usw.

    Es ist natürlich auch kein Schlüsselroman, aber eine Zeitlang scheint die journalistische Tätigkeit (nicht die Biographie) von Theodor Merten sich stark an der des ungarisch-amerikanischen Journalisten Joseph Pulitzer anzulehnen:

    Erwerb der Zeitschrift "New York World", Unterstützung des Präsi­dentschaftskandidaten Grover Cleveland und die Spendenaktion für die Freiheitsstatue usw.


    Also, wo ist hier das phantastische Element? Gut, es gibt zwei Stellen, einmal als sein Ziehsohns Ephraim auf einem nächtlichen Ritt durch Afrika in einer Vision (oder ist es nur ein Traum?) einen Disput zwischen den fiktiven Figuren Samuel Pickwick und dem "britischen Genius" über den Burenkrieg beobachtet und eine weitere Vision von Theodor Merten, in der er die untergehende Titanic mit Großbritannien vergleicht, das ebenfalls auf dem Wasser schwimmt und sich für unsinkbar/unbesiegbar hält und trotzdem unaufhaltsam dem Untergang entgegengeht.

    Aber rechtfertigen zwei solche Stellen (gerademal ca. 10 Seiten in einem Werk von 560 Seiten) das ganze Werk für "phantastisch" zu erklären? Ich glaube nicht, zumal man beides auch, wie erwähnt, als (Tag-)Traum bzw. letzteres als lebhafte Vorstellung/Erkenntnis über die Rolle Großbritanniens in der Welt deuten kann.


    Zum Schluß noch zur Verfilmung des Romans, hat es die tatsächlich gegeben, auf welche Quellen stützt sich da der Wikipedia-Artikel? Es ist natürlich noch kein Gegenbeweis, aber ich habe bis jetzt zwar einen Film mit diesem Titel "Das Gewissen der Welt, 1. Teil - Schattenpflanzen der Großstadt" (1921) gefunden

    IMDb zu "Gewissen der Welt"

    aber die Liste der Personen (Senator Petersen, Frau von Senator Petersen, Carl, Lindholm usw.) hat nichts, aber auch gar nichts mit den Personen des Romans zu tun. Aber das nur nebenbei.


    So, sicher viel zu lang mein erster Artikel, aber ich wollte auch etwas bieten, über das man diskutieren und mich vielleicht vom Gegenteil überzeugen kann.

  • Hallo klausb

    besten Dank für Deine Sichtweise auf das Buch. Ein so förmlicher Widerspruch ist indes gar nicht nötig. Und bestimmt möchte ich Dich nicht von irgend einem Gegenteil überzeugen.


    Wenn Du meinen Beitrag aufmerksam durchgelesen hast, so ist Dir gewiss nicht entgangen, dass ich am Anfang als auch am Ende desselben den phantastischen Charakter des Buchs in Frage, mindestens aber zur Diskussion, stelle – so wie es eben nun geschieht.


    Die beiden Visionen, die Du nennst, sind mir natürlich auch in Erinnerung. Ich stimme Dir zu, dass diese bestimmt nicht das phantastische Element darstellen. Nach meinem Dafürhalten ist eine generelle Tendenz in Richtung SF jedoch nicht von der Hand zu weisen. Zu diesem Urteil veranlasst mich die großartig-übertriebene Aufmachung des Romans, in dessen Verlauf die Figur des Theodor Merten schon fast Erlöser-Züge entwickelt.


    Es ist ja eben der Clou, dass der Autor in seiner Darstellung auf die historischen Ereignisse und Personen (sehr gut: der Pulitzer-Hinweis!) zurückgreift, um sie als Folie zu gebrauchen, vor der sich der Übermensch Merten (denn das ist er; Mythos vom Tellerwäscher zum Millionär hin oder her!) betätigen kann.


    Ich selbst habe in meinem Bücherregal ein Grenzgebiet zwischen Phantastik und Nicht-Phantastik, mit mal mehr, mal weniger fließenden Übergängen – und da steht das Buch bei mir. X/

  • Es ist interessant, wie sehr die Genre-Einordnung von der Sicht auf Merten abhängt. Du empfindest ihn als Übermensch und Erlöserfigur, ich als überhöhtes Idealbild eines investigativen Journalisten und in seinem privaten Leben als einen Menschen, mit dem ich eher keinen Umgang haben möchte und dem ein Psychiater sicher gut täte. Mit anderen Worten, sehr menschlich, mit all seinen Marotten und Spleens.

    Nun ja, jeder liest das Buch auf seine Weise und die Grenzen zur Phantastik sind eben verschwommen und fliessend.

  • als einen Menschen, mit dem ich eher keinen Umgang haben möchte und dem ein Psychiater sicher gut täte.

    Das war wohl auch die Absicht des Autors: Merten so zu zeichnen, dass er unnahbar ist. An dieser Stelle scheinen sich aber unsere Geister wieder zu scheiden: Du redest von menschlichen Marotten – ich sehe hier meine Theorie vom entrückten Supermenschen bestätigt. Freilich: Diesen herben Zug entwickelt er erst so richtig nach dem Tod seiner Frau, als ihm also das "irdische Glück" offenbar versagt ist.


    Es schwingt ja viel Verbitterung im Leben des Theodor Merten mit. Dieser Umstand trägt m. M. mit dazu bei, dass der Roman recht sperrig ist und sich beim Lesen kein anheimelndes Gefühl einstellt: im Sinn einer Identifikation mit der Hauptfigur, aber das hast du ja, wenn ich es recht verstehe, ebenso empfunden.

  • Diesen herben Zug entwickelt er erst so richtig nach dem Tod seiner Frau, als ihm also das "irdische Glück" offenbar versagt ist.

    Da stimme ich dir zu. Aber ein eher kontaktscheuer Mensch war er auch schon vorher und sein Verhältnis zu Frauen immer passiv. Tatsächlich bestimmt der Tod in starkem Mass sein Leben und Handeln. Angefangen mit dem Tod des Gutsbesitzers, der ihn indirekt ins Gefängnis gebracht hat, weil er ihn hart "angefasst" hat, dann die Toten beim Eisenbahnunglück (Anlass für seinen ersten Zeitungsartikel), der sehr plastisch geschilderte Kampf am Halsteadstreet Viaduct mit vielen Toten, der Tod seines Freundes Kenny und später der seines Ziehsohnes Ephraim (den Tod seiner Frau hast Du ja schon erwähnt) und ganz am Ende die Toten der Titanic. Übrigens finde ich die Titanic-Episode am schwächsten, und überhaupt den schwülstigen Schluss mit seinem Tod zur Wagnermusik samt einer Hurra-patriotischen Vision über das böse England, bah. War wohl der damaligen Zeit geschuldet, der 1. Weltkrieg hatte ja schon begonnen, macht die Sache aber nicht besser. Zumal O. Pietsch vorher durchaus zu differenzieren wusste.