Tanya Tagaq: Split Tooth | Eisfuchs

  • Tanya Tagaq: Split Tooth

    Kanada 2018

    Penguin / Random House, 304 S.

    Cover-/Innenillustrationen: Jaime Hernandez

    Übersetzung aus dem Inuktitut: Julia Demcheson

    Dt.: Eisfuchs. Antje Kunstmann Verlag. Übersetzung: Anke Caroline Burger

    Homepage der Autorin und ein schönes Interview mit (weniger experimentellem) Gesang.



    Das war ein Überraschungserfolg. Während ich selbst schreibe, lese ich möglichst keine Prosa, aber ich hab so viel geschrieben, dass mir natürlich Bücher fehlten. Meine Ausnahme wurde Volodine/Bassmann/Draeger, und das sind so extrem individueller Stil und Erzählhaltung, dass ich echt Probleme hatte, danach etwas anderes zu lesen bzw. genießen. Tagaq lag schon seit Längerem rum, mal gekauft, weil ich Inuit-Kunst und Tattoos spannend finde und bissl grönländische Musik höre.


    Split Tooth ist ein Roman mit einem ungeheuren Drive und Klang, kein einziges Wort zu viel. Alles sehr poetisch, aber mit den wenigsten Worten ausgedrückt, keinerlei Redundanz, jedes Wort treibt die Erzählung voran und man muss die 'Lücken' (das Unerklärte, Assoziierte) selbst füllen - aber diese Lücken sind eben gerade so klein oder groß, dass einem nix fehlt. Damit hat der Roman eine ungeheure Wucht, die von den Bildern - teils grausam / deprimierend, teils wunderschön / erhebend - noch verstärkt wird.

    Es gibt Pathos und Witz, Schrecken und 'Heilung', Licht nie ohne Dunkelheit und umgekehrt. Ich bin eigentlich kein Freund von spirituellen Szenen, aber da diese so natürlich eingewoben sind, und eben keine New-Age-Esoterik, sondern traditionelle Kultur sind, passt es ganz perfekt und gibt dem Ganzen eben die spekulative Ebene, die sogar ganz dezent gruselig ist. Und teils sehr harsch, grausam. Es gibt Tod, Mord, spekulativen und sehr haptischen Sex, persönliches Wachstum, Wut, Erkenntnis, Antikolonialismus.

    Die einzelnen Kapitel werden von - auch thematisch passenden - kurzen Lyrikpassagen unterbrochen bzw. damit verbunden.

    Tagaq ist in erster Linie Musikerin und Sängerin (Obertongesang), und dieser Sound hat sich offenbar auch auf ihr Schreiben übertragen. Mit diesem Roman gewann sie mehrere Literaturpreise.


    Das würde vielleicht sogar zu einem meiner Lieblingsbücher, stünde nicht das Thema 'Schwangerschaft / Geburt / Babies' im letzten Viertel im Vordergrund. Das interessiert mich einfach null. Obwohl es auch hier sehr viel Naturmagie / Spekulatives gibt, hat imA der atemlose, energetische Drive nachgelassen. Es wird zudem plötzlich eine christliche Kolonialbildsprache verwendet, die sie eigentlich vorher im gesamten Buch heftig kritisiert hatte. Dann, als ich bereits nicht mehr viel erwartete, nimmt die Erzählung auf den letzten Seiten einen wirklich schockierenden Dreh. (Der war im Intro eigentlich angekündigt, aber ich hatte das an diesem Punkt nicht erwartet, auserzählt zu sehen.)

    Der einzige Autor, der ähnlich schreibt und den ich auch wirklich liebe, ist der flämische Surrealist Peter Verhelst, v.a. in seiner wunderbar schrägen Postapokalypse Tonguecat.


    Fazit: 9 von 10 Punkten (der Abzug hat eher mit meinem persönlichen Desinteresse am vorletzten Thema, denn mit Qualität zu tun).


    Ein paar Auszüge aus Split Tooth (achronologisch, unzusammenhängend):


    I am grey and numb, hungry. It’s getting colder. I feel nothing. The wind picks me up off my feet and places me near the shore. The wind wants to help feed my belly. What great fortune that Wind is in a good mood, for she can kill on a whim.

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    Music comes out of some homes, suicide out of others.

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    They all see my rabbit and I have trained her to hunt. In her perfect glory she is shy and extroverted, chaste and perverted, my sweet near-death more alive than ever. Take her. Take me while I am ripe and open, rub berries on my lips and bear fat in my hair. Tattoo me with a needle and impale me with your warmth. Heal me, fuck me, and work my heart till she beats strong and unafraid. Haunches bared, teeth sharpened, wide-eyed and aware. Hurry. I want to feel safe.

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    The drunks came home rowdier than usual one night, so we opted for the closet. We giggle nervously as the yelling begins. Become silent when the thumping starts. The whole house shakes. Women are screaming, but that sound is overtaken by the sound of things breaking. Wet sounds of flesh breaking and dry sounds of wood snapping, or is that bone?

    Silence.

    There is someone standing right outside the closet door, panting. The door slides open, and my uncle sticks his head in. Towering over us, swaying and slurring. Blood pouring down his face from some wound above his hairline.

    “I just wanted to tell you kids not to be scared.”

    Then he closed the door.

    Split Tooth.jpg