Gene Wolfe: Der Schatten des Folterers

  • Der Schatten des Folterers

    (Das Buch der Neuen Sonne 1)

    Gene Wolfe


    In einer Hinsicht hat Heyne das Konzept eBook verstanden und nutzt es, um eine umfangreiche Backlist für Kunden lieferbar zu halten. Dabei hat man allerdings nicht auf das Cover der Taschenbuchausgabe aus den 1980ern zurückgegriffen, sondern dem Buch ein neues beschert, das überhaupt nichts mit dem Inhalt zu tun hat. Nicht einmal die Stimmung des Romans fängt es ansatzweise ein. Was mich aber noch mehr stört: In Analogie zu Printbüchern wird beim Verkauf von eBooks ja ebenfalls eine (errechnete) Seitenzahl angegeben. Diese erhöht Heyne durch eine enorm lange Leseprobe um etwa ein Sechstel der eigentlichen Romanlänge, ohne dass das beim Kauf ersichtlich war, denn sie ist weder bei Amazon noch bei Thalia im Leseproben-Inhaltsverzeichnis mitaufgeführt. Das finde ich schon frech, zumal ich den ersten Band der Reihe erworben und gelesen habe, die Leseprobe aber den fünften betrifft. Wie jemand auf diese Idee gekommen ist, bleibt mir schleierhaft. Ich gehe davon aus, dass hier ein seelenloser Algorithmus am Werk war.


    Aber genug gemeckert; der Klappentext:


    Zitat

    Eine Million Jahre in der Zukunft: Die Technik ist bis auf wenige Rest verschwunden. Die Menschheit fiel kulturell ins Mittelalter zurück und harrt der Ankunft der neuen Sonne, die ein neues Zeitalter herbeiführen soll. Dies ist die Geschichte Severians, eines Waisenjungen, der in der Zunft der Folterer aufwächst und dieses Handwerk erlernt. Doch als er eines Tages aus Mitleid einer Frau den Selbstmord gestattet, wird er aus dieser Zunft ausgestoßen. Doch anstatt selbst gefoltert und hingerichtet zu werden, schickt die Gilde ihn nach Thrax, einer weit entfernten Stadt, die einen Henker braucht. Severian macht sich auf eine Reise, die sein Leben für immer verändern wird …


    Sieht man von dem Hinweis auf die Zukunft ab, deutet der Klappentext eine Queste an, wie sie ja in vielen Fantasywerken handlungsbestimmend ist. Von diesem Gedanken sollte man sich bei Der Schatten des Folterers aber schnellstens verabschieden. Gene Wolfe scheint das Konzept Roman nämlich ganz und gar nicht als ein dramaturgisches Korsett zu verstehen, in das sich auch die wildesten Ideen hineinpressen lassen, um eine ausgefeilte, spannende Geschichte zu erzählen. Stattdessen nutzt er die lange Form, um eine Vielzahl dieser Ideen, Figuren und Szenen wie die Perlen an einer Kette zu verbinden. Das führt dazu, dass die erste Hälfte des Romans Severians Jugend bei der Zunft der Folterer erzählt, also mehrere Jahre umfasst, die zweite Hälfte aber vor allem einen Tag umfasst. Wird in der ersten Hälfte wie in einer Biographie munter und scheinbar beliebig von relevantem Ereignis zum nächsten relevanten Ereignis gesprungen, ist die zweite Hälfte durch das immer wieder neue Aufploppen von Ideen, Wolfe seiner Hauptfigur regelrecht zwischen die Beine wirft, so retardierend konzipiert, wie ich es vielleicht noch nie gelesen habe. Das macht in beiden Hälften nicht immer Spaß und dadurch wird Der Schatten des Folterers auch nicht zu einem guten Roman.


    Aber.


    In den Momenten, in denen ich die dramaturgische Konzeptlosigkeit vergessen konnte, offenbarte Der Schatten des Folterers eine phantastische, lebende Welt, wie ich sie mir selten erlesen haben. Wolfe gelingt es meisterhaft, die Welt bis zum Ende immer facettenreicher zu gestalten, greift dabei auf Ideen der Fantasy zu rück, bricht sie aber mit einer Welt, die ja irgendwie in der Zukunft liegt. Er entwirft Orte, die in ihrer Alltäglichkeit wunderbar phantastisch anmuten, bevölkert sie mit Figuren, die selbst, wenn sie nur kurze Auftritte haben, niemals platt oder ausgelutscht wirken und alle ihre eigene Verschrobenheit an den Tag legen. Weil Wolfe aus dem vollen schöpft, droht fast schon unterzugehen, wie großartig die einzelnen aneinandergereihten Szenen (nicht der Roman) gestaltet sind. Vieles gehört meines Erachtens zum Besten, was die Phantastik hervorgebracht hat, etwa die Begegnung mit einem blinden Bibliothekar, ein Duell mit pflanzlichen Waffen oder auch die Nichtschilderung eines Theaterstücks, welches den Zweck hat, das Publikum zu vertreiben. Dabei erzählt Wolfe durchaus augenzwinkernd, als würde er sich selbst und die Welt nicht zu ernst nehmen, und scheut trotzdem nicht, auch in philosophische Tiefen zu gehen. Ich kann mich nicht erinnern, einmal konstruktivistische Positionen in einem Fantasyroman wiedererkannt zu haben, die dabei nicht einmal aufgesetzt oder wichtigtuerisch wirken.

    Das spricht wiederum alles für ein sehr gutes Stück Literatur, einen echten Klassiker, wenn nicht, ja, wenn da nicht die Dramaturgie und Gesamtkomposition wären.