Splatterwahn - Eine extreme Anthologie
Anthologie mit 10 Kurzgeschichten, Grey Gull Publishing
Hrsg. Nico Pietschmann
Erscheinungstermin: Sommer 2021
Link zur Ankündigung
Mit blutroten Beiträgen von:
David Acker
Silke Brandt
Anke Elsner
Sabine Frambach
Gina Grimpo
Daniel Krčál
Glen Krisch
Oliver Miller
Lena Obscuritas
Isabell Hemmrich / Nico Pietschmann (als Autorenduo)
Die Anthologie war als eine Hommage an die Splatterfilme der 60er-80er gedacht, ließ aber auch Raum für eigene Konzepte. Ich bin wirklich überglücklich, dass eine Kurzgeschichte von mir unter den zehn Beiträgen ist. Vor allem, weil der Verlag eine nordisch-kühle Webpräsenz hat und dieses Buch auf einen innovativ-individuellen Ansatz beim Blutvegießen hoffen bzw. schließen lässt.
Seit ich Prosa schreibe, möchte ich beweisen, dass 'Show, don't Tell' nicht nur genauso, sondern besonders gut in Erotik/Porn und im Splatter angewendet werden kann, und Explizites eben nicht sinnloses Beiwerk sein muss. Schließlich sind Sex und Gewalt die Momente, die (nahezu) garantiert auch mit - inneren und/oder äußeren - Konflikten zu tun haben, und damit ein ideales Feld für eben auch literarische Konflikte bieten. Und Nico Pietschmann geht ebenfalls von dieser Prämisse aus.
Wenn das Buch herausgekommen ist, sage ich auch gern etwas zu den anderen Texten.
Zu meinem Beitrag "Czernobóg – Der Gott der Stadt" hatte ich schon ein bissl im "Was schreibt ihr?"-Thread gesagt:
Der Erzähler ist ein abgehalfterter slawischer Gott, der auf dem alten Baggerschiff Kronos lebt und in Norilsk sein drogensüchtiges Orakel aufsucht. Die Krokodil-Köchin Mara sagt ihm allerdings nur die Vergangenheit weis, denn die dystopische Zukunft ist offensichtlich. Die beiden injizieren sich das aufgekochte Krokodil und verlieren sich in eigenartigen Träumen, die möglicherweise auch Realität sind.
Mara könnte einerseits eine einfache Süchtige der "Zombiedroge" sein, andererseits auch die slawische Göttin des Todes und des Winters. Die Motive sind an Georg Heyms Gedicht "Der Gott der Stadt" angelehnt und im Intro findet sich eine kleine Lovecraft-Referenz.
Von unserem Liegeplatz im Hafen von Dudinka können wir das weiße Band des Ambarnaya sehen, das sich zwischen den Bergen hindurch ins Landesinnere schlängelt, nur selten von den nuklearen Eisbrechern durchbrochen. Im Sommer fließt der Strom rot von Dieselöl und Rost, aber noch sind wir vom Eis eingeschlossen. Für die Kronos macht es keinen Unterschied: mein alter Hopper Dredger ist nicht begierig darauf, flussaufwärts zu fahren, über Norilsk zu den Minen von Talnakh, wo Chemikalien ihren blauen Anstrich verätzen.
Die Kronos ist seit unzähligen Jahren mein Zuhause, sie selbst ein Anachronismus unter Dudinkas roten Tankern, die den zugefrorenen Ozean ebenso mühelos wie die Eisbrecher navigieren. Wir allerdings werden uns bis zum Sommer nirgendwohin bewegen. Mein schönes Schiff hat früher das Flussbett ausgehoben, aber leistungsstärkere Bagger machten ihren Einsatz schon vor langer Zeit entbehrlich.
Ich verlasse meine Kajüte im Laderaum und klettere an Deck, dessen Stahl sich noch kälter anfühlt als die Luft. Mein Atem wird nicht zu kleinen Wölkchen gefrieren – ich bin schon länger tot als die Kronos, aber die Zeit schreitet voran und nimmt keine Notiz von meiner Existenz. Fast, als hätte mein Tod die Zeit besiegt und nähme mich mit in die Unendlichkeit. Während mein weißer Bruder Bielobóg zu einem Nichts verblasste, vernachlässigt und verlassen, gelang es mir, mich anzupassen: Die Schmelzhütten sind meine Körperwärme, die Schornsteine stoßen meinen Atem von Schwefeldioxid aus. Der schwarze Schnee des Frühjahrs kühlt meinen Zorn und der ölverschmutzte Ambarnaya ist mein Blut. Vor Jahrzehnten hockte ich auf den Hochhäusern, meine Krallen in den Stein geschlagen. Ich jagte die Einwohner der Stadt, mein Feueratem löschte diejenigen aus, die nicht schnell genug flüchteten. Gleich meinem Schiff bin ich nun ein Wrack und niemand kommt, um Opfergaben zu hinterlassen. Ihre Gebete schicken sie stattdessen an die Hochöfen und die Erzminen, in der sinnlosen Hoffnung auf eine Zukunft.
(...)
“Du warst wieder oben auf dem Dach?”, frage ich. “Geh noch nicht. Wir müssen noch ein paar Orte besuchen. Zusammen. Ich brauche jemanden, der mich leitet.”
“Welcher Gott braucht denn einen Führer?”, erwidert Mara, aber wartet nicht auf eine Antwort. “Bevor es Beton gab, war da nur Holz“, fährt sie fort. “Ein Wald, wie nicht anders zu erwarten, aber danach eine Stadt, gebaut aus Baumstämmen. Die Kapelle steht immer noch am Ende der Hauptstraße. Nicht mehr als eine leere Hülle. Du kannst sie besuchen. Wie du ja selbst weißt, betet niemand mehr.”
“Sie beten mich an”, sage ich, verletzt. “Sie graben sich tief in den Boden und bringen schwarze Erde mit herauf. Ihre Raffinerien atmen Feuer, die Schlacke ihrer Hochöfen versengt die Berghänge, und die Tundra ist nichts als ein toter Wald. Was willst du mehr?”
“Aber sie tun es nicht für dich. Ihnen ist es egal, ob du existierst oder nicht. Niemand besucht dein sterbendes Schiff und bringt Opfergaben dar.”
“Das kümmert mich nicht, die Opfergaben erjage ich mir selbst.” Dies ist das erste Mal, dass ich sie anlüge. Maras schiefes Lächeln zeigt mir, dass sie mich durchschaut hat.
Vom Bodensatz im Kaffeefilter probiere ich etwas von dem Gift. Anthrazit leuchtet hinter meinen Augen auf, ein trostloser grauer Regenbogen.
“Ich träumte, ich hätte die Stadt verlassen”, erzähle ich ihr. “Obwohl es keinen Ort gibt, an den ich gehen könnte. Im Kielwasser eines Eisbrechers schob sich die Kronos durch gefrorenen Schlamm, erzitternd und ächzend. Eisschollen krachten gegen ihren Rumpf, sie stieg und fiel wie auf hoher See. Nachdem der Eisbrecher verschwunden war, gab es nur noch eine Wüste aus Frost und das Phantom der Deepwater Horizon war unser Leitstern. Mein flammender Leuchtturm, der niemandem Schutz bietet.”
“Hör auf, in den Minen herumzuspuken”, sagt sie, nur halb bei Bewusstsein. “Finde lieber heraus, was dir das Holz zu erzählen hat.”
“Unsinn”, sage ich. “Holz spricht nicht zu mir. Und als Nahrung dient es ebenso wenig.”
“Du kannst gehen, sobald der Sommer kommt. Dann werde ich nicht mehr am Leben sein.” Mara zieht ein Hosenbein hoch, offenbart purpurn verfärbtes Fleisch, fahl und schuppig dort, wo die Haut aufgesprungen ist. “Das ist nicht alles.” Sie schiebt den Ärmel zurück und hält ihren Arm ans Licht. Erst jetzt rieche ich Verwesung durch die Benzindämpfe. Inmitten von bleichrosigen Fetzen liegen Elle und Speiche blank. Kein Blut ist zu sehen. Die Zirkulation hat dort gestoppt. Ich halte ihre Hand als ob ich sie wärmen könnte. “Hast du den grauen Regenbogen gesehen?”, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf, ihr fallen die Augen zu.
Norilsk ist für mich so etwas wie ein 'state of mind', ein Setting, zu dem ich seit 10 Jahren recherchiere, mit dem ich eine kleine Obsession habe und zu dem ich sicher noch öfter zurückkommen werde.
Eine erste Kurzgeschichte, "Schwarzer Schnee in Norilsk" (2012) ist u.a. im Zwielicht Classic 15 und der Anthologie Kunst kurz - Kunstfestival Giennale abgedruckt. Dort geht es um die Verschmutzung gespiegelt in einer unguten Tattoo-Session und einen Kindesmord (im off erzählt).
Mein Mood-Board zum Czernobóg sähe so aus (alles real):