Udolphos’s Geheimnisse
Ann Radcliffe
Klappentext der Golkonda-Ausgabe
ZitatEmilie St. Aubert ist das einzige Kind einer adeligen Familie, die zurückgezogen auf ihren kleinen Ländereien lebt. Nachdem sie mehrere Schicksalsschläge erlitten hat, sieht sich die feinsinnige junge Frau gezwungen, zu einer Tante zu ziehen, mit der sie nur wenig verbindet. Als sie sich weigert, nur um des Geldes willen eine Ehe mit einem Grafen einzugehen, wird sie auf das abgelegene Schloss Udolpho verschleppt. Mysteriöse Vorfälle drohen sie in den Wahnsinn zu treiben, und nur der Gedanke an ihren Geliebten Valancourt hält sie bei Verstand. Doch auch dieser hütet ein finsteres Geheimnis – Emilies Schicksal scheint unter einem dunklen Stern zu stehen …
Der große Klassiker der Schauerromantik nach weit über 200 Jahren erstmals wieder auf Deutsch: 1795, nur ein Jahr nach der Originalausgabe »The Mysteries of Udolpho«, erschien die herausragende Übersetzung aus der Feder von Meta Forkel-Liebeskind. Sie wird hier, wie die Vorlage in vier Bänden, neu herausgegeben, und zwar in sorgfältigem, möglichst zeichengetreuem Neusatz.
https://golkonda-verlag.de/pro…ffe-udolphos-geheimnisse/
Ich wollte schon lange einen Roman von Ann Radcliffe lesen und damit für mich eine Lektüre-Lücke schließen. Ihr „Italiäner“ steht schon seit länger Zeit ungelesen in meinem Regal, doch bin ich nie dazu gekommen, ihn anzufangen. Da ich nun seit Anfang des Jahres notgedrungen vor allem eBooks lese, habe ich mir die eigentlich in vier Bänden erschienene – und damit in der gedruckten Variante doch recht teure – Neuausgabe von Udolphos’s Geheimnisse als kostengünstigeren eBook-Sammelband zugelegt.
Wie es der Klappentext ankündigt, ist diese Neuausgabe zeichengetreu zur ersten Ausgabe der Übersetzung von 1795. Da war der Duden und die Vereinheitlichung der Rechtschreibung noch fern. Wer bei allem, was von den gegenwärtigen amtlichen Rechtschreibregeln abweicht, unruhig wird und den Rotstift zückt, sollte wohl eher nicht zugreifen. Für mich hat diese Entscheidung aber viel zum nostalgischen Charme des Buches beigetragen, zumal die Übersetzung trotz des Alters sehr flüssig und angenehm zu lesen ist.
Der erste Band der Golkonda-Neuausgabe und somit auch der eBook-Sammelband wird mit einem informativen Vorwort von Alexander Pechmannzu der Autorin, ihrem Werk, dessen Einfluss auf die Gothic Novel und die dunkle Phantastik eingeleitet. Genau so sollte es sein!
Die Gothic Novel selbst ist nicht nur erstaunlich lang, sondern auch langwierig. Im Mittelpunkt der Handlung steht das Schicksal der jungen Emilie, ihr lieben, bangen und sorgen. Mag es in der Schauerromantik vielleicht ein Stück der literarischen Emanzipation dargestellt haben, eine weibliche Figur zur Hauptfigur und Heldin eines solchen Romans zu machen, ist Emilie – wenigstens für mich – aus heutiger Perspektive streckenweise nur schwer zu ertragen. Zu sehr ist sie um Sittsamkeit und Reinheit bemüht, zu passiv lässt sie über weite Strecken alles Unheil, das ihr widerfährt, geschehen, zu stark ist sie und macht sie sich von männlichen Figuren abhängig. Die wenigen Momente, in denen sie selbst aktiv wird, erscheinen dabei schon als Akt des umfassenden Aufbegehrens. Aber zum Glück gibt es sie und sie sind nicht unbedeutend für die Handlung. Und ebenfalls zum Glück gibt es eine ganze Reihe schurkenhafter, eingebildeter, missgünstiger oder aus anderen Gründen interessanterer Figuren, die verhindern, dass der Roman zu einem überbordend moralisierenden Werk gerät.
Emilie zeichnet sich zudem durch eine enorm hohe Empfindsamkeit aus. Auch dies ist manchmal schwer auszuhalten, ist aber der zentrale Schlüssel zu Gothic Fiction. Ereignisse, die für Emilie unerklärlich bleiben, werden nämlich durch ihre Empfindsamkeit als schauerhafte Phantasmen gedeutet. Dass sich dahinter kein Spuk verbirgt, wird, wenn überhaupt, erst einige Seiten später aufgeklärt. Diese Technik, in einem realistischen Szenario die Phantastik heraufzubeschwören, habe ich selten so gelungen umgesetzt gesehen, und hier liegt auch für mich der große Reiz des Romans verborgen. Denn zwischen düsterer Vorahnung, schaurigen Ruinen, geheimnisvollen Klängen und nächtlichen Sinnestäuschungen gelingt Radcliffe immer wieder eine wohlig mysteriöse bis schaurige Atmosphäre – natürlich weit entfernt von heutigen Horrorschockern.
Ansonsten geht es in dem verschwenderischen Roman viel um Liebesdünkel (mit endlos retardierenden Dialogen), um Reisen durch Frankreich und Italien samt umfassenden Lanschaftsbeschreibungen, moralische Verwerfungen, verlassene, verfallende Schlösser und Burgen u.v.a.m. Meine Oma hätte „Udolphos’s Geheimnisse“ einen echten Schinken genannt, zurecht. Trotzdem bin ich froh, diese Lücke für mich geschlossen zu haben.