Edward Bulwer-Lytton – Das kommende Geschlecht (1871)


  • Edward Bulwer-Lytton: Das kommende Geschlecht (The Coming Race, Erstveröffentlichung 1871)

    Aus d. Englischen v. Michael Walter

    Phantastische Bibliothek Bd. 42, Suhrkamp. Frankfurt a. Main 1980


    Glück auf! (Worum es geht)

    Ein junger, wohlhabender Müßiggänger (unser Erzähler) erforscht gemeinsam mit einem befreundeten Ingenieur ein Bergwerk. Als sich die beiden Männer abseilen, kommt es zu einem Unfall, der dem Ingenieur das Leben kostet. Auf sich allein gestellt, begibt sich der Erzähler weiter in die Unterwelt. Dort trifft er auf einen speziellen Menschenschlag: die Vril-ya – ein Geschlecht von überlegener Erhabenheit und Intelligenz. Der Fremdling wird nach anfänglicher Skepsis freundlich in die Gemeinschaft aufgenommen. Nach und nach lernt er die gesellschaftliche Organisation der Vril-ya kennen, welche – der Name sagt es ja – auf einem besonderen Stoff beruht: Vril. Dabei handelt es sich um eine evolutionär bedingte Kraft, welche die Unterirdischen psychisch und physisch meisterhaft beherrschen.


    I’ve got the Power (Die Vril-Kraft)

    Obwohl von gemeinsamer Abstammung, haben die Vril-ya eine andere Entwicklung hingelegt als die Menschen. Dank der ebenso zerstörerischen wie beruhigenden Vril-Kraft sind sie maximal gelassen; menschliche Affekte machen ihnen nicht zu schaffen. Und alle Erfahrungs- und Anschauungswerte der oberirdischen Welt sind hier unten ins Gegenteil verkehrt. Wesentliche, uns bekannte Triebkräfte sind verkümmert. Was zur Folge hat, dass es keine Kriege und keine Ungleichheiten gibt – im selben Zug aber auch keine bedeutenden Einzelpersönlichkeiten oder künstlerische Errungenschaften. Dies alles wird vom Erzähler fein beobachtet und analysiert. Wobei er beständig zwischen Zustimmung und Ablehnung schwankt. Zwar erkennt er die Überlegenheit seiner Gastgeber an, doch ist er sich nicht sicher, ob ihm ihre Lebensweise behagt.


    Der eine kommt, der andere geht (The Coming Race)

    Der Roman gliedert sich in 29, teils sehr kurze Kapitel. Das ungeschriebene 30. Kapitel bleibt unserer Phantasie überlassen. Doch sollten die Vril-ya eines Tages beschließen, die Oberwelt zu betreten, so dürfte dies zu Ungunsten der Menschheit ausfallen. Gemäß ihrer Philosophie bliebe ihnen nicht anderes übrig als unsere Auslöschung. Denn ein dermaßen raffiniert entwickeltes Geschlecht hat keinerlei Interesse am Fortbestehen einer Menschheit, die noch auf der Stufe leidlich zivilisierten Barbarentums steht … Das Prinzip der Eugenik ist daher bei den Vril-ya auch nichts anrüchiges, sondern integraler Bestandteil ihrer Bevölkerungspolitik. Freilich kämen sie nie auf den Gedanken, aus Grausamkeit oder Genusssucht zu töten und lehnen eine karnivore Ernährung strikt ab.


    Fazit

    Das kommende Geschlecht ist kein (wie es mir vorschwebte) atemberaubender phantastisch-abenteuerlicher Roman. Vielmehr habe ich das Buch als hintergründigen Kommentar der Menschheitsgeschichte bis zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift gelesen, das auch heute noch Aussagekraft besitzt. Was als Lost Race beginnt, sich zur Utopie entwickelt, trägt schließlich mehr und mehr die Züge einer Satire. Es ist ein gedankenreiches Werk, dessen dürre Handlung nur dazu dient, uns mit den theoretischen und praktischen Aspekten der Vril-ya bekannt zu machen. Ich bin eigentlich kein Freund solcher literarischen Gesellschaftsentwürfe (oder ihrer Gegenmodelle), doch hat mir die Spitzfindigkeit der Ausführungen Spaß gemacht. Zudem bin ich fasziniert von der Vril-Kraft, die eine eigene, ungeplante Dynamik entwickelt hat: Esoterische bis hin zu völkisch-okkultistischen Kreisen griffen Bulwer-Lyttons Vision dankbar auf und verorteten sie in ihren eigenen Themenbereichen. – Doch das ist wieder ein anderes Thema …


    Ich vergebe 4 von 5 Daumen. :thumbup::thumbup::thumbup::thumbup:

  • Danke für die Besprechung! Gut zu wissen, was in diesem Werk verhandelt wird, zu oft ist ja nur noch der gewiss einflussreiche Titel bekannt (oder die Vril-Generatoren, die von rechten Esos verkauft werden).


    Es klingt mir letztlich so, als ob der liberalkonservative Oberschichtenmann Bulwer-Lytton uns hier seine pessimistische Kritik sozialer Progression vorzulegen gedachte.

  • Es klingt mir letztlich so, als ob der liberalkonservative Oberschichtenmann Bulwer-Lytton uns hier seine pessimistische Kritik sozialer Progression vorzulegen gedachte.

    Das mag sein, aber manchmal, so habe ich den Eindruck, ist ihm seine Kritik aus dem Ruder gelaufen und hat sich verselbstständigt. Jedenfalls fragte ich mich beim Lesen des Öfteren: Wird hier Kritik betrieben oder Gedankenspielerei? Das Buch hat jedenfalls Charme.

  • Jedenfalls fragte ich mich beim Lesen des Öfteren: Wird hier Kritik betrieben oder Gedankenspielerei?

    Oder Gedankenspielerei als Kritik? Ich kann es natürlich nicht beurteilen, da ich das Buch nicht gelesen habe und meine Spekulation lediglich auf deiner Rezension beruhte. Da ich deine Abneigung gegen literarische Gesellschaftsentwürfe aber durchaus teile, werde ich wohl auch auf die Lektüre verzichten.