Band 1
Bro
Berlin Verlag 2006, Orig. Put‘ Bro 2004
Der Protagonist des Romans, Alexander Snegirjow wird am 30. Juni 1908 geboren. Das ist deshalb bedeutsam, weil an diesem Tag wohl in der Nähe des Flusses Tunguska in Sibirien ein Meteorit einschlug. (Für dieses sogenannte Tunguska-Ereignis gibt es auch alternative Erklärungen.) Der Erzähler erlebt die Wirren der russischen Revolution und des Bürgerkriegs und schließt sich 1928 einer wissenschaftlichen Expedition an, die in der Taiga nach den Resten des Himmelskörpers sucht. Offenbar kann man hier keineswegs von Zufall sprechen, denn je näher sie der Absturzstelle kommen, umso seltsamer und befremdlicher wird sein Verhalten. Als er zu guter Letzt auf einen riesigen Brocken des himmlischen Eises Ljod stößt, offenbart sich ihm eine strahlende Verheißung: Er ist Bro, einer von insgesamt 23.000 Auserwählten, die sich unter der Menschheit verbergen (und selbst von diesem Fakt gar nichts wissen). Seine Aufgabe ist es, diese anderen zu finden und mit einem Eishammer aus dem himmlischen Ljod zu erwecken. Immerhin ist er treffsicher und wird zum Anführer einer immer größeren Schar von Gleichgesinnten, die sich zuerst Stalins und später auch Hitlers Machtapparat zu nutze machen, um nach ihren blonden und blauäugigen Brüdern und Schwestern zu suchen …
Ein schwieriger Roman. War es zu Beginn noch leicht, sich mit dem Ich-Erzähler zu identifizieren und ihm auf seine Reise zu folgen, so wird er befremdlicher und befremdlicher; und wenn er sich in Sibirien vollständig durch die Begegnung mit dem Ljod in Bro verwandelt, ist es damit endgültig vorbei. Man folgt dem erleuchteten Bro in seine Heilslehren und seinen Lebensekel hinein, begleitet einen Mann, der jegliche Menschlichkeit verloren hat und deshalb auch vollkommen unbeeindruckt von den Verbrechen der stalinistischen GNU oder später etwa von den Vernichtungslagern bleibt. Oftmals ist sein Abscheu vor den „Fleischmaschinen“ nachvollziehbar, doch eine vollkommene Weltabkehr, wie er sie ins Extrem praktiziert, konnte mich noch nie überzeugen. Und welcher Gleichgültigkeit er diese minderwertigen Wesen behandeln zu können glaubt, hinterlässt doch deutliche Kratzer auf der lichterfüllten Erhabenheit, auf deren Kommen er hinstrebt.
Alles in allem ein lohnender Roman. Ich bin schon auf die anderen Teile gespannt. Aber nach zwei Büchern von Sorokin brauche ich erst einmal eine kleine Pause.