"'Wie, gibt es mittlerweile schon Bücher über die Zone?' Pilz ließ sich im Stuhl nach hinten fallen und klatschte fröhlich in die Hände. 'Schau einer an. Bald drehen sie noch einen Film über uns!'"
S.T.A.L.K.E.R. – Shadow of Chernobyl vom ukrainischen Entwicklerstudio GSC Game World war bei seinem Erscheinen 2007 einer der ersten richtig guten Open-World-Shooter. Dem Spieler eröffnete sich ein brandgefährliches, frei erkundbares Areal um das Kernkraftwerk Tschernobyl. Die Zone.
"Machen wir uns doch nichts vor! Vor achtzehn Jahren ist mehr als nur Radioaktivität ausgetreten. Und was auch immer seitdem dort draußen lauert, es zehrt uns aus, es tötet uns."
Die Entwickler ließen sich dabei von Picknick am Wegesrand von den Strugatzkis und der Verfilmung von Andrei Tarkowski inspirieren. Aus Motive dieser Vorlagen und bewährten bis innovativen Genreelementen entwarf man eine alternative Realität, die an der historischen Nuklearkatastrophe von 1986 anknüpft. Demnach entstand dort 2006 nach einer - durch geheime Experimente zu Kollektivbewusstsein und Telekinese ausgelösten - zweiten Explosion die Zone. Eine kontaminierte Region, in der die Naturgesetze teilweise außer Kraft gesetzt sind und sich allerlei Mutanten tummeln. Verschiedene Arten von Anomalien – bizarre physikalische Phänomene - bringen regelmäßig Artefakte hervor: Seltsame Objekte mit wundersamer und häufig nicht ungefährlicher Wirkung auf den menschlichen Organismus oder die Umwelt. Seither streifen neben dem Militär und wissenschaftlichen Expeditionen auch illegale Schatzjäger, so genannte Stalker (ein Akronym für Scavenger, Trespasser, Adventurer, Loner, Killer, Explorer and Robber), durch die Zone.
"In der Zone herrschte das Prinzip fressen und gefressen werden. Alles, was einigermaßen von Nutzen schien und keine lebenden Besitzer mehr hatte, verschwand innerhalb kürzester Zeit in den Taschen beutehungriger Stalker."
Der erste Teil der Reihe spielt 2012. Man übernimmt darin die Rolle der namenlosen Hauptfigur, kurz der Gezeichnete. Man erwacht ohne Erinnerung nach einem Unfall eines Transporters, der aus dem eigentlich unzugänglichen Zentrum der Zone gekommen war. Einzige Verbindung zur Vergangenheit ist der Auftrag „Töte Strelok“ auf dem eigenen PDA. Im Laufe des Spiels gelangt man bis unter den Betonsarkophag von Reaktorblock 4 und lüftet manches Geheimnis um die Zone.
Der Erstling überzeugt durch eine glaubwürdige Spielwelt, die sich stark an der realen Umgebung orientiert und eine beklemmend dichte Atmosphäre erzeugt. Der Weg durch die Zone birgt etliche Gefahren, von denen die allgegenwärtige Radioaktivität noch die harmloseste bleibt.
"Die scharfe Klinge hinterließ eine rote Furche auf dem ungeschützten Hals, durch die das Leben röchelnd entwich."
Parallel zu den Veröffentlichungen von S.T.A.L.K.E.R. – Shadow of Chernobyl (2007), S.T.A.L.K.E.R. – Clear Sky (2008) und S.T.A.L.K.E.R. – Call of Pripyat (2009) erschienen bei Panini Books acht Romane, was damals keineswegs unüblich war. Zu so ziemlich jedem Blockbuster-Titel gab es Bücher. Egal ob Diablo, Mass Effect, Command & Conquer, Spellforce, Hitman oder Elder Scrolls. Sogar zum legendären, genrestiftenden Dämonengemetzel DOOM existierte eine eigene Reihe.
- Bernd Frenz & Claudia Kern: Todeszone (2007)
- Bernd Frenz: Inferno (2008)
- Bernd Frenz: Apokalypse (2008)
- Wasilij Orechow: Zone der Verdammten (2008)
- Aleksej Stepanov: Deserteur (2009)
- Aleksej Kalugin: Tödliche Sümpfe (2009)
- Wasilij Orechow: Im Kreuzfeuer (2010)
- Aleksej Kalugin: Bis zum bitteren Ende (2010)
"Irgendwo im Zentrum existiert eine Macht, die diese Menschen beeinflusst. Es ist wie ein Ruf, dem man sich nicht entziehen kann."
Am Anfang der S.T.A.L.K.E.R.-Buchserie steht eine Trilogie von Bernd Frenz. Der wurde von GSC beauftragt, eigens für den deutschen Markt eine Vorgeschichte zu verfassen. Laut eigenen Angaben bekam er neben Hintergrundinformationen vom Studio gerade einmal einen Nachmittag mit der Beta-Version des Spiels samt einem God-Mode-Cheat, um sich mit Konzept und Welt von S.T.A.L.K.E.R. vertraut zu machen. Entsprechend weicht seine Version in manchen Details von den Spielen ab. Ein paar Jahre vor der zweiten Explosion verschwindet ein Reisebus mit einer deutschen Touristengruppe spurlos aus der Geisterstadt Prypjat. Einziger Überlebender ist der Teenager David Rothe, der fortan über eine sensible außersinnliche Wahrnehmung verfügt und sich immer stärker zum Sperrgebiet um das stillgelegte AKW hingezogen fühlt. Die Geschichte zieht sich über die ersten drei Bücher und damit über gut zehn Jahre. David wird quasi zum allerersten Stalker und gemeinsam mit Major Alexander Marinin von der örtlichen Polizei versucht er dem Geheimnis und dem Verschwinden seiner Eltern auf die Spur zu kommen.
"Der Weg schlang sich zwischen lehmigen Anhöhen und hohen Müllbergen hindurch, aus denen verrostete Rohre und Überreste von Fabrikanlagen ragten."
Frenz ist um psychologische Glaubwürdigkeit seiner Figuren und einen ausgefeilten Handlungsbogen mit multiplen Strängen bemüht, greift jedoch leider immer wieder tief in die Klischeekiste. Seine Trilogie muss jedenfalls recht erfolgreich gewesen sein. Zumindest erfolgreich genug, dass Panini begann, zusätzlich mehrere Romane aus dem Russischen zu übersetzen, wofür die Covermotive der Originalausgaben von Eksmo Publishing House verwendet wurden. In Russland entwickelten sich die S.T.A.L.K.E.R.-Publikationen zu einer einträglichen Franchise. Bis heute erschienen über 40 Romane. Eine inhaltliche Kontinuität existiert in diesen Büchern jedoch kaum. Es handelt sich hauptsächlich um individuelle Abenteuer mit teilweise wiederkehrendem Personal. Die Übersetzungen sind die ersten „echten“ Zonenromane, weil sie eng am Spielkonzept angelehnt sind. Hier findet man auch den rauen Charme, der die Spiele auszeichnet. Denn insbesondere die Protagonisten von Frenz wirken sehr glatt und zuvorkommend. In den Folgebänden geht man dann deutlich derber und durchaus egoistischer an die Aufgaben heran. Zudem werden die Dynamiken zwischen den teils verfeindeten Fraktionen herausgearbeitet und die Handlungen spielen auch fast ausschließlich in der Zone, während in der Trilogie von Frenz - als Vorgeschichte! – natürlich Nebenschauplätzen lange eine viel größere Rolle einnehmen und die Zone in ihrer vertrauten Form erst im Laufe des zweiten Bandes den Hauptschauplatz darstellt. Kurz, den Übersetzungen gelingt es wesentlich besser, die Atmosphäre der Spiele zu transportieren, was selbstverständlich nicht zwingend gute Literatur ergeben muss. Die philosophische Tiefe der Strugatzkis oder Tarkowskis wird gleich gar nicht angestrebt. Es handelt sich schlicht um unterhaltsame Abenteuer für die flotte Lektüre.
"Blutsauger – das sind Biester, […] schlaue, bösartige und ewig hungrige Biomasse. Sie haben nichts Menschliches mehr an sich."
Eine Ausnahme bildet jedoch der sechste Band, Tödliche Sümpfe von Aleksej Kalugin. Der erzählt vom Sumpfdoktor, eine semi-mystische Gestalt, die nicht nur die Stalker medizinisch versorgt, sondern auch selbst zu den gefährlichsten Mutanten einen guten Draht zu pflegen scheint. Der hitzköpfige Jungspund Stir bricht auf in die Sümpfe zur versteckten Hütte des Doktors, um die darin vermutete Artefakte-Schatzkammer zu plündern. Ein ist ein Roman der leisen Töne, der im Gegensatz zu den Vorgängern weitgehend auf rasante Action verzichtet. Trotzdem packend bis zu letzten Seite, weil er statt ermüdender Gefechte lieber auf einen hintergründigen Schreibstil, sorgfältige Figurenzeichnung und mitunter amüsante Dialoge setzt. Kalugin liefert hier eine alternative Interpretation, die im Gegensatz zur martialischen Konfrontation eine mögliche Form der Koexistenz in Aussicht stellt. Von den ersten sechs Büchern, die ich gelesen habe, das beste und neben der einleitenden Trilogie wahrscheinlich jener Band, den man Lesern, die nicht mit den Spielen vertraut sind, am ehesten empfehlen kann.
"Der Zonenhimmel veränderte sich ständig, verschiedene Luftschichten flossen ineinander, trennten sich wieder, prallten erneut aufeinander. Der Himmel sah aus wie das Gemälde eines Surrealisten – düster und unheilvoll, aber auch unglaublich schön."
"Die Zone war von Anfang an von den Menschen als etwas Gefährliches und Aggressives wahrgenommen worden. Dementsprechend verhielten sie sich auch. Niemand entfernte sich ohne Waffen vom Lager. Jeder ging davon aus, dass die vernünftigste Reaktion bei einem Zusammentreffen mit einem Zonenbewohner Angriff und Gewalt war. Wenn man nicht selbst angriff und tötete, wurde man getötet.
Und was, wenn alles in Wirklichkeit ganz anders war? Was, wenn die Zone nur die Antwort auf das aggressive Verhalten der Menschen lieferte?"
Romane zu Videospielen sind mittlerweile ein Phänomen vergangener Dekaden. Es erscheinen zwar immer noch Bücher zu Spielen, aber eher im Stil von Artbooks oder schön gestalteten Kompendien über Lore und Welt. Demnächst wird nach über zehn Jahren wieder einer neuer S.T.A.L.K.E.R.-Teil herausgebracht. Ohne begleitende Romane und ohne die längst vergriffenen Titel neu aufzulegen.
"Wenn sich die Zone ein weiteres Mal ausbreitet, wird sie komplette Landstriche vernichten. Im schlimmsten Fall sogar die ganze Welt. Das wäre die Apokalypse, verstehen Sie?"