Antoine Volodine: Mevlidos Träume
Aus dem Französischen von Holger Fock & Sabine Müller
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011 (OV 2007). 446 Seiten
Klappentext:
"Mevlido wird von den Organen seiner Partei mit einer geheimen Mission beauftragt. Dafür muss er die schwerste aller Prüfungen auf sich nehmen: gewaltsamen Tod und qualvolle Wiedergeburt. In seinem neuen Leben findet sich Mevlido in einer Welt der GULAGs und Ghettos wieder. Aber er begegnet auch seiner lange verstorbenen geliebten Frau ..."
Das trifft den Plot schon passend, allerdings ist das Buch wirklich extrem seltsam und rein über die Handlung nicht vermittelbar.
Die Welt des Buches erinnert mich sehr stark an die kurze Prosaversion des Drehbuchs zu Stalker (Strugatzkis "Die Wunschmaschine" in Polaris 10, Suhrkamp 1986): eine trostlose, mit Schutt und Maschinenteilen übersäte Stadt, eine mit Stacheldraht eingeschlossene Zone, in der spekulativ-magische Dinge passieren, Mutanten, die Suche nach etwas Metaphysischem, labile Frauenfiguren in asexuell erscheinender erotischer Beziehung zum Prota.
Der auktoriale Erzähler, der sich auch frech mit seiner abweichenden Meinung in seine eigene neutrale Berichterstattung einmischt, sich korrigiert oder zugibt, etwas nicht zu wissen, gefällt mir am Roman am besten. Das ist ein sehr starker, individueller Erzähler, der dennoch eben als Figur nichtexistent ist.
Das Buch hat überhaupt eine sehr eindrückliche, teils hypnotische Erzählstimme, und - anders als bei vielen anderen Büchern - mir blieb die Atmosphäre, einzelene Szenen, wirklich extrem präsent im Gedächtnis.
Mevlido wohnt in einer Art Mutantenghetto, genannt "Hühnerhof Vier" (grandioser Name, sehr typisch eigentlich für kritische SF der Sowjetzeit). Er hat Alpträume, in denen ihm die Realität betreffende Aufgaben und vor allem Verbote erteilt werden, die er sich aber nicht richtig merken kann. Er ist ein Doppelagent der Polizei, der eigentlich Altkommunisten auskundschaften soll, aber mit dem radikalen Untergrund sympathisiert, wohin er Munition für Mordattentate liefert.
Die politische Welt ist etwas schwammig: Das herrschende Regime in beiden Welten (vor und nach seiner Wiedergeburt) sind eindeutig ein kritisch gezeichneter realexistierender Sozialismus bzw. kommunistische Diktatur. Aber auch die Altkommunisten, tatsächlich alte zahnlose Omas, die mit sinnlosen Parolen durch die Straßen ziehen (wohl ein Nicken zu George Orwell), sind ja irgendwie links. Und schließlich der militante Untergrund, der eine antikapitalistische Ausrichtung hat und ebenfalls streng hierarchisch, nahzu unmenschlich organisiert ist.
Da sich Mevlido selbst nicht politisch positioniert, ist das also ein gesamt-negatives dystopisches Setting ohne Hoffnungsschimmer bzw. Alternative. Das finde ich auf der einen Seite etwas verwirrend, auf der anderen trägt es extrem positiv zu dem Gesamteindruck von Hoffnungslosgkeit und Unterdrückung bei.
Dadurch, dass sich Mevlido nicht an seine Existenz vor der Wiedergeburt erinnern kann, und die Partei lediglich über seine Träume mit ihm kommuniziert, bewegt er sich in einem endlos erscheinenden, arbiträren Alptraum durch diese Welt, gehalten nur von zwei Polen: einer schwer traumatisierten, psychisch kranken Frau, zu der er eine seltsam mitleidige, unerotisch sexuelle Beziehung hat; und eine Reihe starker, militanter Frauenfiguren, die alle als eine Art Vogel-Hybrid beschrieben werden, die er obsessiv erotisch begehrt, allerdings ohne Erfolg zu haben. Diese Frauen werden - mit Ausnahme der Rabenfrau (Vorgesetzten) aus seinen Träumen - trotz unterschiedlicher Rollen zum Verwechseln ähnlich beschrieben und verschwimmen zu einer austauschbaren Gruppe.
Fast auf der Mitte des Buches bei S. 200 kommt erst der Rückblick und die Herleitung, wie er überhaupt in diese Ghettowelt kam und was er dort soll (Sozialstudien anstellen). Dann wieder springt die Handlung zurück in die Welt von Hühnerhof Vier, und zieht ähnlich alptraumhaft mäandernde Kreise wie zuvor. Schließlich wird Mevlido tödlich verletzt (was ambivalent ist, denn er ist quasi als Untoter "wiedergeboren" worden) und gelangt in die gefürchtete, äußerste Zone, Die Halde. War die Welt bisher schon düster, ist dies eine Dystopie in der Dystopie. Dann trifft er seine verstorbene Geliebte wieder, doch es wurde ihm jeglicher Kontakt zu ihr untersagt, sodass sie eine weitere erotisch-sentimentale Sehnsucht bleiben muss.
Volodine durchzieht den Roman mit immer wiederkehrenden - teils obskuren - Symbolen und Schlüsselszenen: Spinnen / Spinnennetze, Vögel / Vogelmutanten, Hitze / Schwitzen, Psychoanalyse & Hypnose, Gewalt, erotische Obsession, Depression, Kriegstrauma, politischer Terror.
Fazit:
Ist schwierig. Der Roman ist zweifellos sehr ungewöhnlich und wirklich einzigartig. Für meinen Geschmack aber viel zu lang. Das trägt zwar zu der schleppenden, depressiven Aussichtslosigkeit bei, aber ich bin sicher, das ginge auch mit der Hälfte / Dreiviertel des Umfanges.
Die immergleichen Szenen, teils Träume, teils Realität, haben mich zwischendrin auch ermüdet, weil sie spiralartig erst langsam ihre Verbindungen und Implikation verraten. Andererseits hatte ich das Gefühl, dass - im Sinne eines Weird / Magischen Realismus - vieles auch nicht erschlossen werden soll.
Die Frauenfiguren fand ich sehr klischeehaft und hatten - da nur durch Mevlidos Augen betrachtet - keine individuelle Identität, sie waren insgesamt Objekte seines Begehrens, seiner Liebe / Empathie oder Angst / Ablehnung.
Setting, Erzählstimme, Plot wiegen sehr positiv, damit: 8 von 10.