Hintergrund
Die Zeit um die Jahrhundertwende bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus gilt bekanntlich als Blütezeit der phantastischen Literatur im deutschsprachigen Raum. Das Warum ist seit Jahrzehnten Gegenstand literaturwissenschaftlicher Debatten. Ob man das jetzt als Parallele oder direkte Folge der Stimmung des Fin de Siècle sehen will, ist aber eine akademische Fleißaufgabe. Unbestritten bleibt jedenfalls, dass diese Ära großer Umwälzungen mitsamt ihren Widersprüchen, in der Weltreiche und –anschauungen ins Wanken gerieten, die Kreativität schwärmerischer Gemüter so stark beflügelte, wie seit der Romantik nicht mehr. Reihenweise entflohen sie der Enge von Realismus und Naturalismus hin zu neuen Ausdrucksformen. Eine Entwicklung, die sich natürlich auch in der Verlagswelt spiegelt. Man verlegte damals mit Der Orchideengarten – Phantastische Blätter sowie Kokain – Eine moderne Revue spezialisierte Zeitschriften und startete entsprechende Verlagsprogramme. Bücher dieser Zeit tragen im Titelzusatz manchmal die Adjektive „sonderbar“, „grotesk“, „abseitig“, „seltsam“ oder etwa „okkult“. Bezeichnungen, bei denen an Phantastik interessierte Leser aufhorchen sollten. Die wahrscheinlich bekannteste Reihe dieser Art von Literatur war die Galerie der Phantasten des Münchener Georg Müller Verlages.
Inhalt
Band I E. T. A. Hoffmann: Phantastische Geschichten (1914)
Illustriert von Ernst Stern
Band II Edgar Allen Poe: Das Nebelmeer (1914)
Illustriert von Alfred Kubin
Band III Oskar Panizza: Visionen der Dämmerung (1917)
Illustriert von Paul Haase
Band IV Karl Hans Strobl: Lemuria – Seltsame Geschichten (1917)
Illustriert von Richard Teschner
Band V Alfred Kubin: Die andere Seite (1917)
Illustriert von Alfred Kubin
Band VI Hanns Heinz Ewers: Mein Begräbnis – und andere seltsame Geschichten (1917)
Illustriert von Fritz Schimmbeck
Band VII Honoré de Balzac: Mystische Geschichten (1920)
Illustriert von Alfred Kubin
Band VIII Gustavo Adolfo Bécquer: Von Teufeln, Geistern und Dämonen (1922)
Illustriert von Paul Haase
Mit Hanns Heinz Ewers hatte die Galerie der Phantasten einen zentralen Protagonisten des Genres als Herausgeber. Der startete das Programm standesgemäß mit Hoffmann und Poe, die ihre Schatten bis weit in die (damalige) Gegenwart warfen. Danach folgten vier zeitgenössische Autoren, ehe die Reihe mit zwei weiteren Klassikern geschlossen wurde. Mit Ausnahme von Kubins Roman Die andere Seite handelt es sich bei den Titeln ausschließlich um Erzählbände. Man kann die Bücher jeweils als Best-of des entsprechenden Autors verstehen, denn sie bestehen hauptsächlich aus bereits zuvor veröffentlichtem Material. Panizzas Visionen der Dämmerung etwa fasst seine beiden Sammlungen Dämmrungsstücke (1890) und Visionen (1893) zusammen. Die Zusammenstellungen waren in dieser Form allerdings Erstveröffentlichungen. Einzig Die andere Seite war eine Neuausgabe, der Erstdruck erfolgte 1909 beim gleichen Verlag.
Durch die Spannweite von gut hundert Jahren ergibt sich natürlich eine beträchtliche inhaltliche Breite. Von der Schauerromantik, über Bécquers teils folkloristisch angehauchte „Leyendas“, über Dekadenzmotive bis hin zu Panizzas beißende Satiren bildet die Reihe eine große thematische Vielfalt der phantastischen Literatur ab.
Erscheinungsbild
Die Bücher erschienen in mehreren Auflagen in verschiedenen bibliophilen Varianten, die sich heute kaum mehr zufriedenstellend rekonstruieren lassen. Es gibt Leineneinbände, Pappeinbände und geheftete Exemplare, also quasi Paperbacks. Bei den Gebundenen muss man aber noch weiter differenzieren, denn bei den Leinen- und Pappausgaben findet man nackte – nur mit Titel – und illustrierte Einbände. Teils mit Lesebändchen, zumeist ohne. Von Ewers existieren gleich zwei nackte Leinenvarianten. In Braun und seltener knallrot mit goldenem Titel.
Höchstwahrscheinlich erschienen alle Bände in zumindest drei Varianten unterschiedlicher Gestaltung. Doch damit immer noch nicht genug. Dem finanzkräftigen Käufer von Welt bot sich noch die Möglichkeit einer auf 100 bzw. 200 Stück limitierten, nummerierten Luxusausgabe. In Halbleder gebunden, auf Büttenpapier gedruckt. Sicher ohne ISBN, nur direkt über den Verlag zu beziehen
Hier kann man sich anschauen, wie die bei Poe und Panizza ausgesehen haben.
Ich habe mich beim Sammeln auf die illustrierten Papp- (Poe, Panizza, Strobl, Ewers, Balzac) und Leinenvarianten (Hoffmann, Kubin, Bécquer) fokussiert.
Inhaltlich waren alle Ausgaben ident. Die Bücher werden jeweils von ausführlichen Vorworten eingeleitet, mitunter gibt es sogar darüber hinaus ein Nachwort. Bei Die andere Seite besteht die Einleitung aus einer 50-seitigen (!), dennoch angenehm kurzweiligen, Autobiographie, in der Kubin sympathisch uneitel seinen verschlungenen Lebensweg beschreibt. Andere Beiträge sind weniger gut gealtert. Stanisław Przybyszewskis schwülstig-hochtrabende Anbiederung an Ewers treibt einem die Schamesröte ins Gesicht. Mit der Distanz der Jahrzehnte heute unlesbar. Lohnenswert sind die Addenda aber trotzdem, allein schon wegen der ganzseitigen Autorenportraits. Im Falle von Poe liegt auch noch ein Faksimile eines handgeschriebenen Briefes zum Ausklappen bei.
Einen wunderschönen Mehrwert bieten natürlich die Illustrationen. Jeder Band wurde eigens von einem namhaften Grafiker bebildert.
Kubin/Poe; Teschner/Strobl; Schimmbeck/Ewers; Haase/Bécquer
Verfügbarkeit
Dank der verschiedenen Auflagen sind die Bände grundsätzlich allesamt noch erhältlich. Bis auf die gehefteten Varianten. Diese haben die letzten hundert Jahre selten überstanden und wenn, befinden sie sich heute, wie man sich leicht denken kann, in miesem Zustand. Die gebundenen Ausgaben sind zwar verfügbar, aber die schön erhaltenen Exemplare zumeist nicht billig. Die Preisentwicklung der einzelnen Titel verlief höchst unterschiedlich. Am teuersten wird mittlerweile Lemuria gehandelt. Hier lassen sich kaum mehr Schnäppchen ergattern. Mit illustriertem Einband findet man das Buch nicht mehr unter 100€. Tendenz steigend.
Ein paar der Titel wurden später anderswo neu aufgelegt. Insbesondere natürlich Die andere Seite, häufig mit Kubins Zeichnungen. Von Teufeln, Geistern und Dämonen bekommt man aktuell beim Pandämonium-Verlag, Lemuria inklusive Teschners Illustrationen bei der Edition Geheimes Wissen. Der Rest liegt meist mehrfach in anderer Form vor. Nicht nur die großen internationalen Klassiker Hoffmann, Poe und Balzac, sondern auch Ewers. Einzig Panizza scheint mir heute völlig vergessen. Wie die Verlagswerbung im Anhang von Visionen der Dämmerung verrät, waren ursprünglich noch viele weitere Bände vorgesehen. Unter anderem von Frédéric Boutet, Hermann Eßwein, Nikolai Gogol und Oscar Wilde. Aber wie so oft erleiden ambitionierte Projekte solcherart leider ein verfrühtes Ende. Daran hat sich bis heute wenig geändert.