Hermann Dressler [Dreßler]: "Im Banne des Grauens"
Erstveröffentlichung in: Der Bunte Welt-Kalender für das Jahr 1925, Verlag J. Steinbrenner (ex-Winterberg), Wien 1925. Mit Farbillustrationen von H. Messerschmidt.
Neuveröffentlichung 2015 in einem (verschenkten) Privatdruck von Robert N. Bloch und Gerhard Lindenstruth, 50 Seiten.
Nachdem Hospes freundlicherweise in -> diesem Dreßler-Thread auf den Band aufmerksam machte, hatte ich durch einen Bekannten außerhalb dieses Forums die Möglichkeit, das Buch einzusehen. Es ist eine äußerst interessante Gruselgeschichte im Stil der Abenteuerliteratur der Vor- und Nachkriegszeit. Die kurze Erzählung ist gradlinig und schnörkellos geschrieben, aber auch nicht billig oder trashig. Der illustrierte Kalender präsentierte „Geschichten aus aller Welt“ und eben solche Unterhaltung und – für die damalige Zeit sicher auch Exotik – wird in diesem Text ebenfalls geboten.
Blochs & Lindenstruths Veröffentlichung trägt den Untertitel „Ein unbekannter deutscher Vorläufer zu John W. Campbells SF-Horrorstory The Thing From Another World“ – gemeint ist natürlich die Kurzgeschichte „Who Goes There?“, deren Romanmanuskript Frozen Hell von der Wildside Press 2019 erstmals veröffentlicht wurde (Der Thread dazu -> hier).
„Im Bann des Grauens“ erzählt von einer Polarexpedition mit dem Segler Centaur, auf der das Schiff – wie erwartet – einfriert. Die Mannschaft beginnt, sich die Wartezeit mit Großwildjagd zu vertreiben. Anstatt Eisbären aufzustöbern, werden die Männer selbst gejagt – nach einer Nacht, in der jeder von ihnen unter seltsam luziden Albträumen litt, fehlt ein Schlittenhund und sie finden den abgerissenen, blutleeren Kopf eines Kameraden. Weiter entfernt ist Blut im Schnee, das der Bordarzt, Dr. Hellmann, untersucht. Er kommt zu dem Schluss, dass es von einem Wesen aus der Nebenlinie des Menschen stammen müsste. Die Morde gehen weiter, dann stoßen die verängstigten Hunde auf ein im Eis eingeschlossenes Wesen. Die Männer bringen den transparenten Block an Bord der Centaur. Dr. Hellmann wiederholt seine Vermutung, dass das weißbefellte, fast 4 Meter große Wesen eine Abart des Menschen sein müsse, er vermutet eine ‚evolutionierte‘ neue Linie, die aus den ersten Polarexpeditionen des 16. Jahrhunderts entstanden sein müsse. Die Hunde fürchten sich vor dem Wesen, das die Männer nun „das Weiße Tier“ nennen. Dann taut der Block, das Monster ist befreit, richtet unter der Besatzung ein Massaker an, wobei nur der Erzähler überlebt, weil er sich oben in der Takelage versteckt und später von der Stella Maris aufgelesen wird. Als er aus seiner Ohnmacht erwacht, ist das Schiff schon unter vollen Segeln und das Mysterium des Weißen Tieres bleibt ungeklärt.
Unter dem Aspekt eines Monsters, das sich aus einem Eisblock befreit, nachdem eine Blutuntersuchung zu skurrilen Schlussfolgerungen führte, ist erinnert sicher sehr stark an The Thing. (Ob die Blutprobe auch in Campbells Erzählungen vorkommt, ist mir ehrlich gesagt gerade entfallen.) Das macht imA den Text – abgesehen von der Sprachbarriere – aber nicht zu einem tatsächlichen „Vorgänger“ im Sinne eines direkten Einflusses auf Campbell oder einen der Regisseure.
Ein menschenaffenähnliches, mordendes Monster war durchaus im Stil der Zeit: Stefan Grabiński schrieb 1922 die Kurzgeschichte „Biały Wyrak“ (dt. Der Weiße Wyrak a.k.a. Das weiße Wyrak-Tier), das einen extrem ähnlichen Plot um drei Schornsteinfeger und ein im Kamin lauerndes, menschenfressendes, humanoides Monster erzählt. Und vielleicht ließe sich sogar Poes „Murder in the Rue Morgue“ (1841) anführen, obwohl dort der Täter ein reales Tier ist.
Die größte Ähnlichkeit zu Dreßlers Erzählung sehe ich aber in dem Expeditionspart von Lovecrafts „In the Mountains of Madness“ (1931), der sehr gut recherchiert und realistisch dargestellt ist.
Auch wenn ich hier aus Mangel an Sekundärliteratur spekulieren muss, sehe ich eigentlich keine Möglichkeit, dass es eine faktische Beeinflussung zwischen Deutschland, Polen und den USA gegeben hat; sondern denke, es liegt auf der Hand, dass Ähnlichkeiten dem Zeitgeist zugeschrieben werden sollten.
Im Horrorkontext sind die Ähnlichkeiten zwischen Dreßler, Campbell und Lovecraft vielleicht verblüffend, in dem der Segelexpeditionen in die Eismeere allerdings nicht. Die Popularität und das öffentliche Interesse an Eismeerfahrten bzw. auch der Suche nach einem Weg durch die Nordwestpassage war lang anhaltend und unüberschätzbar groß. Es gab Zeitungsartikel, Vorträge, Memoiren, und mitreisende Maler, die ein eigenes Untergenre der Arktischen Malerei schufen. Der Hype war eventuell sogar noch größer als aktuellere um Apollo 13 / Mondlandung, Hubble oder Marsroboter.
Jules Vernes Zweiteiler An Antarctic Mystery (1897) und Charles Romyn Dakes A Stange Discovery (1899), die sich beide auf Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket (1838) beziehen, sind bereits Dokumente, wie das Thema Einzug in den spekulativen Abenteuerroman hielt.
Die fatale Franklin-Expedition zur Navigation der Nordwestpassage, die 1848 im Verlust von allen 129 Besatzungsmitgliedern sowie beider Schiffe – der berühmten HMS Erebus und HMS Terror – endete, führte zu der längsten Suchaktion in der Geschichte der Seefahrt. Bereits 1850 wurden Gräber von Besatzungsmitgliedern auf Beechey Island gefunden, und es ist nicht schwer, aus den (selbst unter heutigen Voraussetzungen) grausigen Funden Geschichten um Wiedergänger zu spinnen, die aus ihren eisigen Gräbern heraus auf Menschenjagd gehen.
Näher am Erscheinungsdatum der drei Erzählungen liegend, machte Shackleton's Imperial Trans-Antarctic Expedition zum Südpol 1914–1916 Schlagzeilen: Nachdem die Endurance vom Packeis zerquetscht worden war, machten sich Shackelton und ein Teil der Besatzung unter Captain Frank Worsley in einem winzigen Einmasterboot zum nächsten Land auf: von Elephant Island 1.300 km über den Southern Ocean bis nach Haakon Bay, South Georgia.
Und im Jahr des Erscheinens von Dreßlers Gruselgeschichte fand eine der berühmtesten Fahrten statt: Roald Amundsens Maud-Expedition 1918-25 mit der Fram, einem der wenigen Schiffe, die ‚überlebten‘. Sie erhielt nach Restauration in Oslo ihr eigenes Museum. Zuvor segelte die Fram unter dem ebenso berühmten Forscher Fridtjof Nansen 1893-96 durch den nördlichen Atlantik. Nansens Bücher, v.a. Farthest North (1897) erfreuten sich größer Beliebtheit und massiver Beachtung durch die Presse.
Dies sind nur drei der allerberühmtesten Beispiele dramatischer und teils auch tragischer Eismeerfahrten, die fast 100 Jahre lang eine breite Öffentlichkeit in ihren Bann schlugen, und deren Hype nur durch den zweiten Weltkrieg ein (vorläufiges) Ende fand. In den Spuren der Admiral Tegettoff, der Pourquoi Pas?, oder eben der Terror, Erebus und Endurance erkunden heute wieder – v.a. niederländische – Großsegler die Polarmeere: Bark Europa, Noorderlicht, Antiqua oder Zweimaster Opal und Tecla (Nordwestpassage 2019) und kürzlich sogar das größte Segelschiff der Welt, Sedov (gebaut 1921 als Magdalene Vinnen II).
Es ist kein Wunder, dass die Schrecken und die absolut extremen Bedingungen dieser Expeditionen sich in SF- und Gruselgeschichten niederschlugen, sowie später – eventuell bereits in Unkenntnis der Seefahrtshistorie – auch in Horrorfilmen. Es ist eben eine Geschichte, die vielen heutigen Lesern nicht mehr präsent ist, und ich denke, dass unsere Assoziationen zu Thematik und Motivik eben zu wenig vom Umfeld der damaligen Autoren geprägt sind.
Zu Ähnlichkeiten zwischen Seefahrt und Realität, die zufällig – oder gar paranormal – erscheinen, siehe auch Morgan Robertsons Roman Futility or The Wreck of the Titan (1898) und der Untergang der Titanic 1912. (-> Hier im Schiffs-/Meeresthread mein Beitrag # 20 vom 18.9.2019)
Letztlich ist das Thema ‚Bedrohung aus dem Eis‘ bzw. historische Eismeerexpeditionen heute wieder im Horror / spekulativem Thriller präsent: Robert Edrics The Broken Lands – A Novel of Arctic Disaster, Dan Simmons Terror, Peter Høegs Miss Smillas Feeling For Snow oder Filme wie Fortitude (UK 2015-18) und Alien vs Predator.
Nach meinem Exkurs auch noch eine kurze Wertung:
Dresslers kleine Erzählung gefällt mir wesentlich besser als Campbells hemdsärmeliger Monsterhorror, aber sie bleibt selbstverständlich hinter etwas wie "Mountains of Madness" zurück. Wenn man nicht viel erwartet und als kleines, altmodisches Abenteuerstück mit leichtem Gruselfaktor durchaus 8 von 10 Punkten.